„Nietzsche wurde der größte Pechvogel der Philosophie-Geschichte. Er wurde von Analphabeten nicht nur in ihr Deutsch übersetzt, auch in ihre Wirklichkeit.“ konstatierte einst der deutsch-jüdische Philosoph Ludwig Marcuse. Lange Zeit prägte die nationalsozialistische Rezeption das Bild Friedrich Nietzsches – und auch die Verdammung Nietzsches durch den ungarischen Sozialisten George Lukascz („Die Zerstörung der Vernunft“) leistete dieser Lesart Vorschub. Rehabilitationsversuche sowohl von konservativer Seite – personifiziert z.B. im Autor Thomas Mann – als auch seitens französischer Intellektueller wie Georges Bataille („Wiedergutmachung an Nietzsche“) blieben weitestgehend erfolglos. Erst die gemeinsam von Giorgo Colli und Mazzino Montinari ab 1967 herausgegebene kritische Studienausgabe des Werks von Friedrich Nietzsche machte die Auseinandersetzung mit jenem Philosophen wieder hoffähig. Es war eine Rückkehr zum Original-Nietzsche – jenseits jeglicher ideologischer Lesart. Bis dato existierte als „Standardausgabe“ die von Karl Schlechta beim Hanser-Verlag herausgegebene Ausgabe – trotz der politischen Vorbelastung von ihm als frühes NSDAP-Mitglied. Letztendlich kann die heute existierende und gedeihende Nietzsche-Gesellschaft als ein Produkt der Herausgabe jener kritischen Ausgabe betrachtet werden.
Es mag zwar wie ein Treppenwitz der Geschichte wirken, dass ausgerechnet Nietzsche mit seinen Ressentiments gegen die Philologie seine erneute gesellschaftliche Akzeptanz ausgerechnet Angehörigen jener Zunft verdankt – Colli und Montinari, aber das tut dem ja keinen Abbruch – ganz im Gegenteil. Leicht süffisant heißt es bei dem Kulturwissenschaftler Philipp Felsch darüber: „Für Collis Vorbild hatte der Philologe den Ausbund geistiger Mediokrität verkörpert“ (S. 51).
Die Geschichte jener bahnbrechenden Edition und ihre auf den ersten Blick so konträren Herausgeber – der eine zeitweiliger Funktionär der Kommunistischen Partei Italiens (KPI), der andere Professor für antike Philosophie und etliche Jahre älter als sein ehemaliger Schüler – werden auf spannende und informative Art, fast romanartig in diesem Buch dargestellt.
Felsch bemerkt bereits im 1. Kapitel über die konträren Zugänge zu Nietzsche bei den Beiden: „Nicht einmal in ihrer Begeisterung für Nietzsche stimmten sie miteinander überein. Während Colli in Nietzsche einen modernen Mystiker erblickt, der ihm die Flucht in ein imaginäres Griechenland ermöglicht, sieht Montinari ihn als radikalen Aufklärer, als Verfechter unscheinbarer, mit strenger Methode gefundener Erkenntnisse an.“ (S. 21).
Die Edition war zudem ein wahres „Politikum“. Der Nachlass des Philosophen lagerte in Weimar, d.h. zu jenem Zeitpunkt auf dem Staatsgebiet der DDR, und in der offiziellen Sichtweise dort galt er zudem auch noch als ein „Wegbereiter des Faschismus“. (Ob Adolph Hitler jemals wirklich Nietzsche gelesen hat, ist umstritten. Die wenigen Erwähnungen des Philosophen sind sehr oberflächlich und lassen keine Rückschlüsse zu.) Erst 1987 war ein Umdenken hier zu verzeichnen, was zu einer ersten Annäherung an sein Denken führte. Vor dem Hintergrund war Montinaris Aufenthalt ein argwöhnisch von der Staatssicherheit überwachtes Unternehmen. Dieser schien sich – zumindest nach den hier zitierten Briefen – aber nicht unwohl gefühlt zu haben. Während seines zweiten Aufenthalts hier schreibt er seinem Lehrer: „Die ernste und schlichte Atmosphäre hier tut mit gut“ (S. 130). Sie tat ihm nicht gut, sondern führte auch, wie wir heute zu schätzen wissen, zu einer sehr guten Grundlage für die Auseinandersetzung mit jenem umstrittenen Philosophen.
Ein sehr kurzweilig geschriebenes Buch in fünf inhaltlichen Kapiteln, was sich deutlich von vielen eher trockenen historischen Darstellungen abgrenzt, über die Editionsgeschichte ist dabei Philipp Welsch gelungen. Garniert wird diese historische Darstellung durch eine Reihe von Faksimiles wie z.B. von der Tagesordnung des internationalen Nietzsche-Colloquiums in Royaumont, nördlich von Paris gelegen, im Jahr 1964, an dem u.a. junger Wissenschaftler namens Michel Foucault teilnahm…. Eine sehr empfehlenswerte Lektüre.
Maurice Schuhmann
Philipp Felsch: Wie Nietzsche aus der Kälte kam. Geschichte einer Rettung, C. H. Beck München 2022, ISBN: 978-3406777011; 287 S., Preis: 26 €.
Leander Sukov
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