Nebel im Bazar

by | Jul. 10, 2020 | Wort & Freiheit | 0 comments

Vor einigen Tagen haben eine Reihe us-amerikanischer Schriftsteller:innen und Wissenschaftler:innen in HARPER’S einen offenen Brief veröffentlicht, dessen Ziel es offenbar ist, etwas zu bekämpfen, was der dort apostrophierten «free debate» entgegenläuft: Die Forderung nach beruflichen Konsequenzen. Konkrete Beispiele werden nicht genannt. Man kann im Subtext, also zwischen den Zeilen, jedoch Fälle imaginieren, die gemeint sein mögen.

Insgesamt gesehen, ist dieser offene Brief Phrase und in seiner Vagheit für jedwede Beipflichtung offen. Diesen Sendbrief kann der Grand Wizard des Ku-Klux-Klan ebenso unterzeichnen wie das schwarze Opfer von Polizeigewalt. Denn der Brief hat keine Linien, er ist nicht beschränkt in seiner Offenheit und seine Fürsprache unbeschnitten, er ist Oberfläche, und nur das. Das ist einem Diskurs über die Grenzen der Toleranz und Akzeptanz abträglich.

Wenn auch zurecht gefordert wird, dass nicht jeder inhaltliche Fehltritt skandalisiert werden solle, so scheint es mir doch zwingend zu sein, zu benennen, wo die ethisch-moralische Grenze verläuft, weil sonst kein Inhalt benannt wird. Jeder müsse alles sagen können, ist eine im Wesen unmoralische und unethische Forderung. Sie drängt darauf, andere Bürger- und Menschenrechte auszuhebeln, weil das Recht auf Freie Rede nicht mehr durch die anderen Rechte beschränkt wird. Solcher falschen Maxime zu entgehen, gelingt nur mit Beispielen. Diese Beispiele fehlen gänzlich. Vermutlich, weil die Verfasser eben das nicht wollten: Die Grenzen aufzuzeigen. Damit verbleibt die Forderung, auch in ihrem interpretativen Gehalt, nur Floskel.

Es ist mit diesem Brief wie mit dem bekannten Gedicht von Lothar Zenetti, das Konstantin Wecker vertont hat. Auch dieses Gedicht hat keinen tieferen Inhalt. Es ist ein schlechtes Gedicht und beschränkt sich auf die Allüren von Widersatz um des Widersatz willen:

Wenn keiner ja sagt, sollt ihr’s sagen.
Wenn keiner nein sagt, sagt doch nein.
Wenn alle zweifeln, wagt zu glauben.
Wenn alle mittun, steht allein

heißt es da. Da ist die bloße Handlung, das Jasagen, das Neinsagen, das Nichtmittun beschrieben, aber es fehlt jeder Bezug zu einem Inhalt. Zu was sollen wir Ja sagen, wenn es keiner tut, was sollen wir ablehnen, bei was sollen wir nicht mittun. Und es kam, wie es kommen musste: Dieses Lied singen auch Neonazis am Lagerfeuer, denn es passt immer, für jeden, überall. Wie der Brief der Kolleginnen und Kollegen in den USA. Es ist ein schlechtes Gedicht, denn es ist nur Phrase; es ist ein schlechter Brief, denn er ist nichts anderes als ein Nebelwort.

Leander Sukov

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