Gedanken anlässlich eines Beitrags von Ekkehard Lieberam in der jungen Welt
Es geht vermutlich nicht nur mir so — jedenfalls habe ich die Hoffnung, auch anderen aus der dialektischen, der Marx’schen Seele zu sprechen: Die Welterklärungen auf dem Stand der Sechziger und Siebziger (die sich ohne jede Evolution in die Achtziger verlängerten) sind von so unerträglicher stereotyper Simpelhaftigkeit, dass sie zu einem ständigen Ärgernis werden.
Lieberam hat natürlich recht, wenn er schreibt „Zweieinhalb Jahre Regierungszeit in Thüringen unter Bodo Ramelow sind vorbei. Die sozialen und politischen Zustände haben sich nicht verändert. Die Regierungspolitik hat sich nur minimal in wenigen Punkten verbessert, aber der Landesverband hat an Glaubwürdigkeit verloren.“
Aber er irrt völlig, wenn er schreibt: „Die Partei ist nicht zuletzt unter dem Druck des bürgerlichen Politikbetriebes zu einer zweiten sozialdemokratischen Partei geworden …“ Denn die LINKE ist, wie es schon die PDS in Teilen und die WASG zur Gänze waren, Fleisch vom Fleische der Sozialdemokratie. Sie ist im Wesen eine sozialistische, keine kommunistische, Partei und ohne Zweifel der Sozialdemokratie nahe.
Weshalb auch nicht? Die Sozialdemokratie kann auf Leute wie Wilhelm und Karl Liebknecht, auf August Bebel, Ferdinand Lassalle und auch auf Karl Marx und Friedrich Engels, auf Rosa Luxemburg und andere mehr zurückblicken.
Aber es geht um das einundzwanzigste Jahrhundert. Und da ist der Vorwurf, der in der Analyse als Synthese mitschwingt, die LINKE sei eben erst zu just dieser (linken) sozialdemokratischen Partei geworden, falsch. Für mich gilt da: „Man spürt die Absicht, und man ist verstimmt“. Denn der Vorwurf lautet ja, sich abgekehrt zu haben von Klassenkampf und der sogenannten „Eigentumsfrage“, also den wichtigsten Etappen an der linken Wegstrecke.
Man mag die Regierungsbeteiligungen in den Ländern falsch finden. Allerdings muss die Argumentationsebene stimmen. Man kann nicht mit eine Argumentationskette, die sich innerhalb des bürgerlichen Staates befindet den Vorwurf der Häresie herleiten.
Innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft gilt, dass ein Bundesland eben nicht die Bundesrepublik ist und eine Landesregierung nicht die Bundesregierung. Das Wollen von Landesregierungen wird gebremst nicht nur von der Mehrheitslage im jeweiligen Land, sondern auch vom föderalen Staatsaufbau der Bundesrepublik und dem Zusammenwirken der Länder untereinander. Es kann keine starke linke Politik in einem Bundesland geben, solange es nicht eine starke linke Politik in der Bundesrepublik als Ganzes gibt. Zugleich sind alle Landesregierungen mit Politikern der LINKEN in Regierungsverantwortung Koalitionsregierungen. Man sitzt also mit der, in der Tat neoliberal gewandelten SPD und ggf. anderen in einer Regierung. Schadet das der gesellschaftlichen Entwicklung? Verliert die LINKE dadurch an Glaubwürdigkeit und wenn ja, bei wem und wie groß sind die Kreise, die der Vertrauensverlust zieht? Sind es ein paar hundert Menschen, ein paar tausend? Gewinnt man vielleicht mehr dazu? Gibt es Untersuchungen? Das wären ja die Fragen INNERHALB der bürgerlichen Gesellschaft. Ihnen hinzu gesellen sich Fragen nach der Strategie und Taktik im bürgerlichen Wahlbetrieb. Es ist überhaupt nicht die Zeit HIERZU andere Fragen zu stellen. ALLE anderen Fragen wären Fragen nach der Überwindung des bürgerlichen Staates. Aber keine nach dem Knicke im Tun linker Organisationen, sondern nach der derzeitigen Klassenlage, nach der zu erwartenden revolutionären Entwicklung usw. Wenn man sonst nichts zu tun hat, kann man ruhig darüber philosophieren, ob die LINKE lieber eine Kaderpartei, eine revolutionäre Gruppe oder sonst ein Kindergarten sein sollte. Jeder Jeck ist anders. Ich möchte nicht in Büttenreden eingreifen.
Völlig verwirrend finde ich, dass Lieberam sich beschwert, die Landesregierung in Thürigen hätte die DDR nicht „verteidigt“. Besteht die Deutsche Demokratische Republik denn noch? Ist es die Aufgabe von bundesdeutschen Landesregierungen vergangene Staaten zu verteidigen? Wäre das die Aufgabe von sogenannter marxistischer Geschichtswissenschaft? Wir verteidigen Objekte der Geschichte? Wovor? Vor falscher Zuschreibung? Nein, das wäre völliger Unsinn und ich möchte gar nicht dem Genossen Lieberam, der ja Professor war, unterstellen einen horrenden Blödsinn gegen jede dialektische Einsicht zu fordern. Es ist die Aufgabe Wissenschaft, auch Geschichtswissenschaft, vor eindeutiger politischer Vereinnahmung zu schützen. Die Aufgabe der thüringischen Landesregierung ist in der Tat aber in der DDR begangenes Unrecht zu benennen, weil die Leidtragenden Bürger Thüringens auch sind, weil damit umgegangen werden muss und das Unrecht also noch fortbesteht. Es handelt sich also hierbei nicht um einen Gegensatz, sondern um zwei völlig unterschiedliche Wirkbereiche. Und in dem der historischen Betrachtung hat eine Landesregierung im Allgemeinen nichts zu suchen. (Im Besonderen schon: An Gedenktagen, bei Preisverleihungen usw.)
Der Artikel von Lieberam reicht weit über die Tagung hinaus, auf welcher der Text dann vollständig vorliegen wird (vermutlich wird er in großen Teilen dem Lieberam-Buch mit gleichem Titel entsprechen), weil tatsächlich Teile der landläufigen Linken (ich meine nicht die Partei an sich) dazu neigen, die Probleme des Einundzwanzigsten Jahrhunderts mit Lenin, in winzigen, stark verwirrten Kreisen auch mit Stalin als Basis zu erklären. Ein stickiger Hauch, der auch aus dem Text Lieberams weht.
Während Marx und Engels den Kapitalismus analysiert haben, zu gesellschaftlichen, nun mehr geschichtlichen, Prozessen Stellung nahmen und damit Einsichten vermittelten und zugleich wissenschaftliches Handwerkzeug, ist Lenin nicht von allgemeiner Gültigkeit. Denn er benutzte ja das Marx’sche Instrumentarium lediglich. Man kann sich selbstverständlich auf Lenin beziehen, so wie auf die französischen Philosophen des zwanzigsten Jahrhunderts oder auf Kant, Hegel, Schopenhauer, Voltaire und andere. Er gehört sicherlich zu den herausragenden Geistesgrößen der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert, eine Sonderstellung nimmt er aber nicht deshalb, sondern wegen der Revolution in Russland von 1917 ein.
Die Limitierung von, kleiner werdenden, Teilen der Linken durch eine scheuklappige Weltsicht ist ein Problem seit der Renaissance des Marxismus-Leninismus im sogenannten Westen in den Sechzigern und Siebzigern. Und obwohl vielerorts und durch lange Zeiten darauf hingewiesen wurde, dass sich seit den bürgerlichen Revolutionen von 1848 bis in die Frühzeit der stalinschen Herrschaft hinein, die Linke, egal ob sie linksliberal oder linksradikal war, in einer sich stets weiterentwickelnder Beschäftigung mit der Gesellschaft befasst hat, seit den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts aber eine entscheidende intellektuelle Schwächung durch die Morde Stalins eingetreten ist, benehmen sich die Apologeten der Nostalgie, als läge alle Erkenntnis im Marxismus-Leninismus. Der ist übrigens ein stalinsches Kunstprodukt. Es muss doch auffallen, dass ab der Herrschaftsübernahme durch Stalin viel, sehr viel weniger an Entwicklungsforschung betrieben worden ist. Die großen sozialistischen Philosophen, Soziologen, Naturwissenschaftler, Historiker, sie sind zu einem erheblichen Teil in den Folterkellern des sowjetischen Geheimdienstes und den Gulags ermordet wurden. Die internationale Linke hat sich davon nie wieder erholt.
Gleichwohl, oder besser: deshalb, gibt es eine linke Attitüde der Reinheit von Theorie und Praxis, die nichts ist, als der Versuch, sich Reservate zu schaffen, in denen man sich wohlfühlt und über die Welt ereifern kann – mit Leninzitaten und dem Streit um Marx’sche Maximen, mit Kampfliedern aus den Zwanzigern des vorigen Jahrhunderts und dem ganzen schrecklich lähmenden nostalgischen Wehklagen über die untergegangenen Landen sozialistischer Revolutionen.
Das Ermüdende an dieser Sache ist, dass, so klein und marginalisiert diese Gruppen auch sind, sie immer wieder rückwärtsgewandte Diskussionen erzwingen, dass sie in der Öffentlichkeit ein völlig falsches, verstaubtes Bild der Linken und der LINKEN vermitteln (möchten).
Wir brauchen natürlich Wissenschaft und Forschung, wir brauchen gesellschaftliche Analyse, ökonomische Kompetenzen, kulturelles Potenzial und politische Potenz. Und es sind in der Tat Marx und Engels, die uns die Analysemittel gegeben haben und Erkenntnisse über ökonomische Wirkprozesse. Aber es ist eben nicht ein Marx als Reliquie, nicht einer, der eine religiöse Größe ist. Das gilt für Engels gleichermaßen. Über klare Zukunftsvorstellungen wird man bei Marx und Engels nicht viel finden. Es gibt da keine Anleitung für die nächste Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung.
Wir können gar nicht anders, als mit unseren Beurteilungen über die Regierungsbeteiligungen der LINKEN im bürgerlichen Staat und seinen Verhältnissen zu verbleiben, sonst stimmt das Ergebnis nicht. Wir müssen, bei der Frage, ob sie, die Beteiligungen, schaden oder nicht eben nicht die „reine Lehre“, die oft ja eine reine Leere ist, zugrunde legen, sondern reale Verluste und Gewinne an Stimmen. Und die LINKE eben auch parteipolitische Zielsetzungen und Taktiken.
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