Mit Kühle auf die Geschichte blicken

by | Apr. 27, 2020 | Wort & Freiheit | 0 comments

Es täte, dreißig Jahre nach dem Ende der sogenannten sozialistischen Staaten der Linken insgesamt gut, wenn sie sich von Begrifflichkeiten entwöhnen würde, die im historischen Rückblick mit gepanschten Inhalten befüllt wurden, denn deren Mogelpackungsimage ist durch keine PR-Maßnahme zu verbessern.

Die gesellschaftsanalytische Linke sollte sich von der nostalgischen Rückbesinnung auf Zeiten lösen, die gar nicht so waren, wie man sie sich herbei halluziniert, insbesondere dann, wenn diese Linke sich direkt auf Marx bezieht. Man kann nicht mit dem dialektischen Rüstzeug, das ja das Werkzeug Marxens und Engels war, umherziehen und gleichzeitig einer Sage huldigen. Das widerspricht sich. Es gibt kein Heil aus einer glorifizierten Vergangenheit heraus, weil das dem Wesen der Welt widerspricht. Der Blick mancher Linker entspricht dem Blick rückwärtsgewandter Deutscher auf die Königspfalz in Aachen. Verherrlichung ist die Dummheit der Verzweiflung. Wer heute gegen die Europäische Gemeinschaft mit Lenin argumentiert, hat sich gleich doppelt argumentativ verlaufen: Es ist Unsinn die Weltlage des 21. Jahrhunderts mit dem Erkenntnisstand des neunzehnten und frühen zwanzigsten zu erklären – und es ist noch unsinniger, immer alles nur halb zu lesen.*

Wer meint, mit den Lehren und Leeren einer vor einhundert Jahren geschaffenen Ideologie historisch die unsäglichen, mannigfaltigen, vielgestaltigen und in ihrer Brutalität und Monstrosität kaum zu ertragenen insbesondere von Stalin, Mao, der monarchischen Dynastie Kim Il Sungs und Ceaușescu, aber auch anderen Despoten verübten Verbrechen als entschuldbares und aus der Zeit zu erklärendes Verbrechen einordnen zu können, vergeht sich an der geschichtlichen Realität. Er verstellt damit den Blick auf Gegenwart und Zukunft.

Sozialismus erfordert umfassende Demokratie. Die Idee von der führenden Rolle einer Partei ist eine Auffassung, die vollkommen abwegig ist. Sie ist historisch dumm, der Niedergang der sogenannten sozialistischen Staaten war damit vorgezeichnet.
Es gibt kein Recht auf Diktatur und es gab ein solches Recht nie. Nirgendwo. Für niemanden. Zu keiner Zeit. Sich mit einer solchen Vorstellung auf Marx zu berufen, verkennt den großen, umfassenden freiheitlichen Charakter, der sich im Werk Marxens findet. Auf Lenin allerdings kann sich der Verfechter solcher Gedanken berufen; dort finden sich, neben manch guter Einsicht, viele Begründungen für Diktatur.

Vor einigen Jahren gab es eine Diskussion darüber, ob es einen Sozialismus des 21. Jahrhunderts geben könne (und falls ja: sollte). Ich bin heute der Meinung, nicht «könne» und «sollte», sondern «müsse» ist das richtige Modalverb. Denn die Idee der sozialen Gleichheit, der Freiheit auch von Ausbeutung ist ein in sich notwendiges Ziel. Ihr Erreichen setzt den Bruch mit aller Diktatur, mit aller Unterdrückung, mit aller systemischen Not und Verelendung voraus. Wer «die freie Assoziation Produzenten» (Marx) will, muss sich der Vorstellung von Unterdrückung entfremden.

Der Sozialismus der 21. Jahrhunderts besinnt sich nicht auf das schlechte Erbe der Sowjetunion, nicht auf Stalin und auch nicht mehr auf Lenin: Er knüpft an die Bürgerrechte an, an die Menschenrechte, an das Recht auf Glück, an gleiche Chancen und die Freiheit von Ausbeutung. Er will umfassende Freiheit, umfassende Demokratie. Aus der Idealisierung der Vergangenheit erwächst der Sozialismus des 21. Jahrhunderts nicht.

Es ist bigott zugleich in Westeuropa gegen jede Abweichung von demokratischen Rechten zu protestieren, aber die oft vollständige, in der Mehrzahl der Fälle schwerer, brutale, auch tödliche, Unterdrückung von Freiheit zu tolerieren, wenn sie in Russland, der VR China, Venezuela, in den schäbigen Diktaturen Nordkorea und Eritreas stattfindet. Sie kleinzureden, sie auf einen ‹äußeren Feind› zu schieben, auf die Verhältnisse, auf die Notwenigkeiten funktioniert nur, wenn Hirngespinste und Lügengebäude eine goldene Zukunft herbeigaukeln, die nie kommen kann.

Wenn Menschen, die stets behaupten, eine bessere Welt zu wollen, die hier an der Seite der Bürgerbewegungen, der demokratischen Linken für Freiheitsrechte eintreten zugleich auch an der Seite derer stehen, die genau diese Freiheitsrechte mit Füßen treten, sie an die Wand stellen oder sie zu Tode foltern, sind in ihrem Wollen nicht glaubwürdig.

Dabei haben diese Menschen in der Regel ein Wissen, haben dazu die Werkzeuge, um, wenn sie sich doch nur lösten von der Huldigung der Mörder, der Dummköpfe, der kleinbürgerlichen Esoteriker, der irren Palastbauer, die jetzt doch so nötige Suche nach einer demokratischen, ausbeutungsfreien, überlebensfähigen Welt voranzubringen, wie nur wenige andere. Aber sie weigern sich, abzulassen. Sie sind sanft zum kleinen dicken Mörderkönig auf dem Thorn Nordkoreas, sie entschulden die syrische Diktatur, die russische Autokratie, die undemokratische Einparteienregierung Chinas, den Verbrecher im eritreischen Regierungspalast. Es ist ein Trauerspiel.

*»Vom Standpunkt der ökonomischen Bedingungen des Imperialismus, d. h. des Kapitalexports und der Aufteilung der Welt durch die ›fortgeschrittenen‹ und ›zivilisierten‹ Kolonialmächte, sind die Vereinigten Staaten von Europa unter kapitalistischen Verhältnissen entweder unmöglich oder reaktionär.« (Lenin, Werke, Bd. 21, S. 343) (Entstehungsdatum um 1915)

Leander Sukov

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