Nein, das wird nichts aus der Familie. Keine Angst. Es geht um etwas gänzlich Anderes. Mein Großvaters liebte Richard Tauber und konnte dutzendweis‘ Volkslieder auswendig, aber auch die Lieder der Arbeiterbewegung, wie er sie als junger Matrose gesungen hatte. Meine Mutter hatte schöne Schallplatten von Richard Germer und vom Hafenkonzert, eine Sprechplatte von Will Quadflieg und einige passable Stücke aus den Fünfzigern und Sechzigern. Beiden waren die Rolling Stones fern, die Beatles weit, beiden waren Tina Turner oder Wilson Pickett vollkommen unbekannt.
Ihr kulturelles Reich war reduziert. Das war natürlich nicht ihre Schuld. Es lag an den Umständen, an dem riesigen kulturellen Bruch, von dem mein Großvater manchmal erzählte. Er, Ende des vorvorigen Jahrhunderts geboren, erinnerte sich an die Bubikopfmädchen, die es in den neunzehnhundertzwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts auch in Königs- und Braunsberg gegeben hatte. Er innerte sich an die Artikel über Berliner Boheme und das Gefühl des Aufbruchs und der Freiheit, dieses kurzlebigen Gefühls, das Dreiunddreißig dann totgeschlagen wurde. Das hatte nicht gereicht. Der Bruch, den der Nationalsozialismus darstellte, diese, auch kulturelle, Barbarei hatte ihn festgenagelt in einer Kulturwelt, die nicht expandieren konnte und sich nicht entwickeln. Und so wie es ihm ging, zu seinem Bedauern, wie ich glauben will, ging es auch jenen, die für die überwiegende Kultur der jungen Bundesrepublik verantwortlich waren. Diese schrecklichen Heile-Welt-Filme, diese schreckliche, weitgespülte Musik, die Triumphe, welche Kabarett ohne Schmerz feierte und bei denen man trotzdem noch „Oha!“ und „was die sich trauen“ murmelte. Eine Rückerinnerung an die Jahre vollkommener politischer Stummheit. Nun galt schon die säuselnde Kritik des Fernsehkabaretts, in Schwarz-Weiß, als rebellische Tat.
Meine Mutter wurde 1922 in die Welt geworfen. Ihre Jugend verbrachte sie im Bund deutscher Mädchen. Ihre Pubertät wurde vom Stahl des Krieges getötet, ihre Tage vom Trott einer nationalsozialistischen Erziehung. Sie hat sich bemüht, das zu überwinden, bis ins hohe Alter hinein. In der Literatur hat sie es geschafft. In der Musik nicht. Aber auch die Literatur, war halt, was halt war. Erst in den Siebzigern, schafft sie es, dann auch neue Literatur zu lesen und sich von Heine zu lösen. Aber musikalisch? Die verlorenen Welten waren nicht erreichbar, sie waren in der Vergangenheit untergegangen.
Jene Generation, die nach 1945 geboren worden ist, vielleicht nicht in den ersten Jahren danach, vielleicht ab Mitte der Fünfziger, diese Generation zwischen Trümmelfeld und Hochhaus, sie ist die erste bruchlose Generation. Das ist viel.
In vielen Plattenschränken, CD-Regalen, in MP3- und FLAC-Ordnern finden sich alter Rock-and-Roll, früher RAP und Peter Fox, Irie Revoltes und Woody Guthrie, Ton Steine Scherben und Dieter-Thomas Kuhn. Bruchlos.
Das müssen wir bewahren. Richtig empfunden habe ich diese deutsche Situation, als ich Anfang der Siebziger nach Irland fuhr. Dort gab es in den Kneipen und Konzerthallen keine Altersgruppierungen. Da sah ich in einem Bed-and-Breakfast im Regal neben alten Opernplatten, die Wolfetones, die Beatles und Marvin Gaye. Das Besitzer-Ehepaar war um die Siebzig. Und auf meine Frage, wie die Mischung zusammen käme wusste sie, sichtlich ratlos, keine Antwort.
Unser Kampf gegen Nationalismus und Faschismus ist auch ein Kampf gegen die Verengung von Kunst und Kultur auf das Skelett einer Totengestalt.
Schön beschrieben. Aus diesem Blickwinkel hatte ich meine Großeltern, meine Eltern und mich kulturhistorisch noch noch nie betrachtet. Der Vater meine Mutter, der bis ins Alter die Musik der Zwanziger liebte ( ich als Kind übrigens auch), meines Vaters ( Jahrgang 28) kurze Elvisphase. Die Zeit der Tanztees, Junge, komm bald wieder- Rhythmen, der Traum von Capri, wo allein die Sonne so schön aufging, dass diese Sehnsucht nach heiler Welt später nur von Sascha Distel und Charles Aznavour oder war es Gilbert Becaud für meine Mutter Jahrgang 24) zu toppen war. Sie schafften es immerhin bis obladi oblada auf ihren glanzvollen Partys, mit denen sie dann stürzten und fielen – verlorene Kinder einer verlorenen Zeit.
Hat mir sehr gut gefallen Leander, ich lese dich sehr gerne!!
Danke!