Leonide

by | Sep 17, 2017 | Wort & Freiheit | 0 comments

Was wollte ich hier nur? Es sieht aus, als wäre es eine der westlichen Vorstädte. Aber warum bin ich hier? Ich kann mich nicht erinnern. Auch nicht daran, wie ich hergekommen bin. Wollte ich jemanden besuchen? Ich kenne hier doch niemanden. Alles ist mir fremd. Das heißt, eigentlich kenne ich es. So wie man Gegenden von Postkarten kennt. Deshalb, glaube ich, dass ich in einer der westlichen Vorstädte bin. Herrschaftliche Häuser, alte Bäume. Die Geschäfte sehen teuer aus. Ich sitze auf einer Bank in einer Vorstadt, in der ich niemanden kenne und weiß nicht, weshalb ich hier sitze. Und wie lange schon. Wie lange mag ich hier sitzen? Die Sonne steht tief, so wie am Nachmittag. Ich kann mich nicht erinnern, das Haus verlassen zu haben. Das Letzte, an das ich mich erinnern kann ist… mein Gott, Leonide. Ich habe Leonide in die Badewanne gelegt. Ich habe sie aus dem Rollstuhl gehoben, ich habe sie in das warme Wasser gleiten lassen und ihren Kopf gehalten, diesen schönen, weißhaarigen Kopf, der sich nicht allein halten kann, wie sich ein Kopf sonst hält, auf dem weißen Hals, der früher so glatt und makellos war.Und jetzt bin ich hier.
Sie wird ertrinken. Sie wird ertrinken. Sie wird ertrinken. Ich muss jemanden anrufen. Ich muss jemanden erreichen, der sie rettet. Nein, nein. Es ist zu spät. Es war am Morgen, als ich sie in die Wanne gelegt habe. Jetzt muss es spät am Nachmittag sein. Man wird sie tot finden. Ich darf mir nichts anmerken lassen. Sieht man mir schon an, dass ich jemanden umgebracht habe? Ich muss so tun, als wäre ich ganz ruhig, als wäre nichts geschehen. Niemand kann Leonide helfen. Es ist zu spät, sie ist ertrunken.
Wenn ich nur wüsste, weshalb ich hier bin und jetzt nicht mit ihr auf der Couch sitze und spreche. Warum bin ich nicht zu Hause? Warum bin ich nicht bei Leonide und sehe in ihre Augen. Ganz tief hinein in ihre schwarzen, warmen Augen? Ich muss nach Hause.
Ich muss zurück. Wieviel Geld habe ich noch? Ich muss ein Taxi finden. Am Besten ich gehe dem Menschenstrom entgegen. Die kommen aus dem Bahnhof, kommen von der Arbeit. Dort wird es einen Taxistand geben. Hier entlang. Um die Ecke. Da ist einer, ich kann ihn sehen. Hundert Meter nur noch und dann soll das Taxi fahren, wie es noch nie gefahren ist.
Wo wohne ich? Mir fällt der Straßenname nicht ein. Wie heißt die beschissene Straße nur. Weshalb fällt sie mir nicht ein? Ich habe mich immer dran erinnern können. Der Ausweis. Ich muss auf dem Ausweis nachsehen. Da ist er, endlich. Der Fahrer soll schneller fahren. Wenn sie tot ist, will ich auch sterben. Ich will ohne sie nicht leben. Leonide.
Ich liebe sie doch so. Sie ist so schön und so warm und so intelligent und so kraftvoll, trotz ihres Schlaganfalls, so kraftvoll noch.
Ah, diese Gegend kenne ich. Ich erinnere mich wieder. Ja, ja; schneller, schneller, schneller. Ich habe es eilig. Fahr schon. Gib Gas, Mann. Hier ist es, hier wohne ich. Behalt den Rest. Ich habe keine Zeit auf das Wechselgeld zu warten. Die Treppen rauf. Weshalb bin ich so atemlos? Was macht meine Tochter hier?
Wo ist Leonide. Hörst Du nicht? Wo ist Leonide? Lebt sie noch? Nun sprich schon. Hör auf herumzustammeln. Sprich, verflucht nochmal. Sag mir, ob sie noch lebt.
Mutter ist tot? Deine Mutter ist tot? Ich habe sie umgebracht. Mein Gott, ich habe sie umgebracht. Ich muss ins Bad. Oder habt ihr sie schon herausgehoben? Weshalb sind keine Sanitäter hier und keine Polizisten?
Was? Zehn Jahre schon? Zehn Jahre schon ist Leonide tot? Aber ich habe sie doch heute morgen erst in die Wanne gelegt. Und wir haben doch gerade erst geheiratet.

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