{Die Stadt}

by | Jun 22, 2011 | Wort & Freiheit | 0 comments

WCWProtestor_with_GasMaskJonas. Telefon. Nummer wählen. Warten. Auflegen. Jonas. Nummer wählen. Warten. Auflegen. Jonas. Nummer wählen. Warten. Nicht auflegen. Hier ist Marie sagen. Dabei fast husten. Hals trocken. Warten. „Oh“ hören. „Das ist ja schön“ hören. Die Frage hören, ob er vorbei kommen könne heute Abend. Wie spät ist es? Vier am Nachmittag schon? Oh, mein Gott, hab ich lange geschlafen. Ja sagen, na klar sagen, gerne sagen, bring Wein mit sagen. Ganz hoch im Hals schlägt Herz, ganz stark schlägt Herz. Herz das „das“ streichen. Herz als Name. Herz gehört mir nicht mehr. Herz gehört jetzt Liebestier. Herz ist gebissen worden. Herz blutet. Herz blutet. Sechs Stunden noch. Schmerztabletten nehmen. Paracetamol, doppelte Dröhnung. Nur zur Vorsicht. Polly Scattergood: Please don’t touch: Feeling strange and looking rotten.

Ich muss Lutz anrufen. Er wird schon zu Dorf sein, in der Schenke. Hallo sagen, blablabla. Vom Gesundheitszustand berichten. Tut noch weh! Nichts vom Herz sagen. Nicht ‘Herz blutet’ sagen. Nicht sagen: Bin verliebt. Das würde ihm das Herz ganz hart machen, ganz Stein machen, ganz brechen vielleicht. Ich weiß ja, er liebt mich. Mit jedem „ich liebe Dich nicht“, wusste ich: Er liebt mich. Blablabla. Viel Spaß. Tschüß.

Was ist mit Kevin? Was tue ich mit Kevin. Wohin packe ich den mir nun? Und den Silberhaarmann. Mensch Marie, Du Liebesidiotin. Es ist viel zu früh für solche strategischen Gedanken. Es ist sogar viel zu früh für sexualtaktische Gedanken. Machst jetzt schon einen auf traute Zweisamkeit. Dabei weeste nix. Garnix!

Einer der beiden hat Brot gekauft. Er hat es im Kühlschrank verstaut. Merkwürdiger Ort für Brot. Aber immerhin: Was zu essen. Käse ist auch da. Camenbert Marke Badejunge. Erstmal was essen. Und dann wieder aufs Bett. Dösen. Immer Angst haben einzuschlafen, zu fest einzuschlafen und dann Ahabs Läuten nicht zu hören. Mein Rücken schmerzt durch mich hindurch. Der Wal hat mich mit seiner Schwanzflosse erwischt. Tuppermännchenpilotfische haben mich vermöbelt. Democracy pangs.

Und über Allem die Gischt. Am Strand die Geliebte, ich sehe sie lang noch winken, sehe sie jedes Mal, wenn der Schoner aus einem Wellental auftaucht. Sie hält gegen die einsetzende Dunkelheit ein Leuchte hoch über ihren Kopf. Ihre Tränen rinnen, wie bei jedem Abschied. Und wie jedes Mal, wenn unser Schiff den kleinen Hafen verlässt, gibt sie mir ein Tuch mit, dass ich um den Hals tragen kann. Nach ihr riecht das Tuch den ersten Tag auf See nur, dann nimmt es den Geruch der Wellen an und der Luft. Und später, wenn der erste Wal gefangen ist, wird es nach Tran riechen, nach Blut und nach Tod. All hands on deck, the captain cries. Und das Schiff in den Wind gedreht, die Sturmsegel gesetzt. Da steht er auf der Brücke: Ahab. Seine schwarze Lederjacke glänzt im Mondlicht, sein schwarzes Haar wird vom Sturm gezaust. Er hinkt die Treppe hinab, stellt sich an den Mast, läßt sich vom Schiffszimmermann Hammer und Nagel geben und schlägt einen Vaterländischen Verdienstorden erster Klasse an den Mastbaum. „Wer den weißen Wal sichtet, bekommt den Orden, wenn wir ihn fangen können“. Sicher und laut klingt seine Stimme. Und ich sehe den Wal. „Da“, rufe ich, „da bläst er!“ Das riesige Tier hält direkten Kurs auf unser kleines Schiff. Und um den Wal herum gleiten Krieger über das Wasser. „In die Boote, Männer“, gellt der Ruf Ahabs. Und er selbst hält im ersten der Boote die Harpune, legt an, schießt, trifft und wird mit dem Boot fortgerissen von dem großen weißen Ungeheuer, das nun das Schiff zertrümmert und dann taucht und wieder auftaucht und auf ihm Ahab, die Hand zur Faust geballt. Und alle Krieger lachen. Und alle Walfänger lachen auch. Nur ich weine. Da schellt es.

Ich habe fünf Stunden geschlafen. Und da steht er in der Tür: Jonas. Groß und schwarz und endlich da. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Also küsse ich ihn. Und er küsst mich, hält mich behutsam im Arm, drückt mich vorsichtig an sich, auf dass er mich nicht Schmerzen bereitet. Mund an Mund, Zunge an Zunge, wir. Und da will ich es wieder sagen, will mich lösen von ihm und sagen: ‘Ich liebe Dich’, aber im letzten Moment kann ich mich beherrschen und schweigend küsse ich weiter in der Tür. Bis er mich langsam herein schiebt und mich wiederum behutsam auf das Bett legt; als wäre ich eine kostbare Blume.

Ich habe immer noch nur mein T-Shirt an (Held der Arbeit) und einen Slip. Die Sachen von gestern halt, obwohl ich ja geduscht habe. Bitte, denke ich, bitte schiebe Deine Hand unter mein T-Shirt. Bitte tu’ etwas, sei Du aktiv, denke ich. Aber er kocht Kaffee für uns, holt aus seinem Rucksack den Wein und dann Kuchen („Nur so Zeug vom Türken“), deckt den Tisch, sagt, dass wir tun sollten, als wäre es dunkler Nachmittag, zündet Kerzen an, löscht das Licht, gießt Kaffee ein, hilft mir vorsichtig hoch. Will mir zum Tisch helfen, die zwei Meter, lacht, als ich sage, ich bräuchte noch keinen Rollator und er, Jonas, sei mir als Zivildienstleistender zu schade.

Wir schaufeln Kuchen in uns hinein, trinken den starken Kaffee, der, wie ich erstaunt feststelle, nicht mein üblicher Mukkefuck ist. Jonas redet von sich: Käme aus Hamburg. Sei nach Berlin gekommen kurz nach der Wende [wie er das Debakel nennt] – mit den Eltern. Die wären Beamte. Hätten bei der Abwicklung der DDR geholfen. Treuhand. Ich wüsste schon. Er sei schon seit fast zwanzig Jahren bei den Autonomen. Wie alt er denn wohl sei, will ich wissen. Fünfunddreißig. „Siehst aber nicht aus danach“. Er: Danke. Und dann ich: Dorf und IM-Vater und beinnachziehende Mutter und überhaupt alles Scheiße da, nur Lutz {leichte Andeutungen hier. Werden verstanden.} eben nicht. Und schon lange politisch aktiv. Antifa eben. Wär’ dringend notwendig gewesen. Sei es immer noch. Brandenburg eben. Allet naziverseucht. Weeste eh’. Er: Und – verliebt,verlobt, verheiratet? Und da heul ick los. Er um den Tisch rum und hält mich im Arm. Und ich stammle alles raus: Vom nicht lieben können, von der ganzen Rumfickerei wegen der Nähe, von Lutz und Kevin, vom Silberhaarmann, von Pubertätserlebnissen, als das losging mit der verfickten Nähe. Und dass ich, da kann ich es gar nicht zurückhalten, da fließt das raus mit den Tränen … im Krankenhaus … seine Hand um meine … dass ich da, da hätte ich dann eben plötzlich, gewaltig, überschwemmend alles in mir: geliebt. Ihn! Und ob er jetzt gehen wolle (das sage ich lauter, denn es könnte sein, dass er es wirklich will und ich möchte nicht leise beginnen zu leiden wie ein Schwein). Aber er: Nein, Marie, nein, ich will nicht gehen. Und sagt meinen Namen mit einem dunklen „a“ und langgestreckt, dass es mir ganz durch Fleisch und Knochen geht. Und sagt dann, und glaubt mir ruhig, da sind alle Dämme gebrochen, da habe ich Rotz und Wasser geheult – und sagt dann: Ich liebe Dich doch auch.

Foto: Wikipedia. Fotograf: Andrew Selman

0 Comments

Submit a Comment

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website ist durch reCAPTCHA geschützt und es gelten die Datenschutzbestimmungen und Nutzungsbedingungen von Google

In Vorbereitung

Zum Ende 2022

Die Liebe ist ein reißendes Tier

Liebe und Verlorenheit

“Warten auf Ahab” und seine Fortsetzung. Vollständig überarbeitet. Ein Roman voll Liebe und Liebesleid, Kampf und Hoffnung.