Die große graue Schuld

by | Dez. 24, 2015 | Wort & Freiheit | 1 comment

605px-Bundesarchiv_B_145_Bild-F002325-0010,_Köln,_Flüchtlingskinder_in_NeubausiedlungDie ganze sachliche Ruhe ist fort nun aus dem Gesicht des Mannes im Fernsehen. Ganz traurig sieht er nun aus, er weint, seine Stimme, die fest war und gleichmütig eben noch, bei allen Erzählungen über die Flucht und das Verlorensein im Litauischen fest und gleichmütig, ist brüchig nun.

Die Schuld ist in ihm gewachsen wie eine Trauerweide, die große, die selbstgezüchtete Schuld, die unsagbare, die nur im Handeln und nicht im Gefühl beschreibare, die einzigartige, die konsequenzenbehangene offene Rechnung. Das Gewissen lastet auf dem Mann, wie eine Betonplatte, wie die Steine auf den Schindeln mancher Bauerhäuser, damit die Schindeln nicht vom Sturm abgedeckt werden und diese Gewissensbisse nicht fortgeweht werden vom Fahrtwind des Lebens. Ganz schwer ist es ihm, über Schuld und das schlechte Gewissen zu sprechen. So schwer, dass er nun weint und dass seine Stimme rau erst wird und mürbe dann.

Später wird er, Melancholie da im Tonfall, berichten, wie sie, seine Geschwister und die Mutter die Leiche des Großvaters, der am Krieg und am Winter, an den Umständen also verstarb im fünfundvierziger Jahr, nachts auf zusammengebundene Kinderschlitten legten, verschnürten, mit Decken die Leiche verbargen und dann den entseelten Körper auf einen Friedhof brachten, irgendwo in dieser litauischen Stadt und ablegten auf irgendein Grab, damit sich irgendwer um den Irgendwer dann kümmere, den der Großvater, der nun ewig verlorene, grabmallose Großvater für den war, der etwas anstellen würde mit dem Körper, etwas, das nicht Begraben war, weil der Boden doch gefroren und der Winter die Menschen und die Natur schlug mit seiner Kälte von achtunddreißig Grad Celsius unter Null. Das erzählt er ohne zu weinen, denn da ist keine Schuld, und das schlechte Gewissen ergibt sich der Notwendigkeit, sich der Leiche des Menschen doch entledigen zu müssen, der ihn und seine Brüder und Schwestern auf den Knien hatte, der ihnen das Angeln beibrachte und Flöten aus Weide schnitzen konnte, wie mein Großvater, dessen Grabstätte ich kenne und doch nie besuche, weil ich Friedhöfe stets gemieden habe, wenn der Boden auch die Verwesungsprodukte Anverwandter enthielt, während ich doch den Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg gern besuchte und den Wiener Zentralfriedhof. Das also ist eine wohl böse Erinnerung, aber eine die man im Kopf hat und nicht im Herzen und der Seele, wie die andere, die er vorher erzählt hat und die ihm also die Traurigkeit als Tränen über die Wangen laufen ließ.

Er erzählt, wie er, das Kind, zerrissen die Hosen, die Jacke zu groß, das Hemd vom Vater, im Park, Herbstlaub schon unter den Schuhen aus Pappe, an dem schlafenden Mann vorbei schlich, immer wieder und wieder, angstvoll und versessen auf die Beute, hungrig und voll Widerwillen der Tat gegenüber und sich schämend, so sehr damals schämend, dass die Scham nun noch anhält, im Jahr 1990, als man die Dokumentation über die Wolfskinder drehte, die ewige Scham. Und wie er dann die Tat zugibt, sie schildert und sofort bekennt, dass er unter ihr leide, immer noch leide, jetzt fünfundvierzig Jahre später, die große, schreckliche Tat, die so groß und schrecklich ist, weil er, der Täter sie so groß gefüttert hat mit seiner Seele, und ich so gerne dem Mann den Arm um die Schulter legen würde und sagen: Dass er ganz ohne Schuld sei. Und ich frage mich, ob jemand das getan hat, ob jemand dem Mann, dem Kind da, dem armen leidenden Kind, dem Kind da, dem Kind mit dem unfassbar schrecklichen schlechten Gewissen, den Arm um die Schultern gelegt hat und gesagt hat, es sei doch nur den Umständen geschuldet gewesen, das Tun des Kindes, und dem Hunger und der Not und dem Krieg und dem Grauen. Nur es, das Ungemach sei Schuld, wenn man von Schuld überhaupt sprechen könne. Und die Scheibe Brot, die bei dem Mann lag, die der Mann sich unter den Kopf geschoben hatte, bevor er einschlief, diese Scheibe Brot, die das Kind gestohlen hatte damals im ersten Herbst des Friedens, diese Scheibe Brot hätte ihm, dem Kind, das Leben vielleicht gerettet, aber sie zu nehmen hätte den Mann nicht getötet, ganz bestimmt nicht. Ganz bestimmt nicht.

 

http://de.wikipedia.org/wiki/Wolfskind_%28Zweiter_Weltkrieg%29

Foto: Bundesarchiv, B 145 Bild-F002325-0010 / Unterberg, Rolf / CC-BY-SA 3.0

1 Comment

  1. Die Doku habe ich gesehen, das unaussprechliche Leid des Mannes gefühlt, mit erlitten, ohne Möglichkeit, Trost zu geben, die Seele zu heilen oder meinen eigenen Schmerz zu stillen. . Doch deine Gedanken konnten mich nun ein wenig trösten, ein wenig entlasten. Danke

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