Zu dem Zeitpunkt, ich mein, stell dir das mal vor, du sitzt da und flennst vor dich hin, weil du dich gestritten hast mit dem Menschen, den du liebst, du sitzt da also auf der Treppe beim Onkel Otto, das Bier wabert in dir, und du flennst und auf einmal … also zu dem Zeitpunkt hörte die Punkmukke einfach auf. Mirnichtdirnichthastenichgesehen. Einen Moment lang war alles ganz ruhig. Kein Geräusch, kein Vogelgezwitscher, kein Autolärm, kein Geräusch von der Elbe her, und ich dachte: Mensch Lena, die Elbe, die hat gar keine Wellen mehr. Einen Moment lang stand alles still. Und dann schwebte die Stimme von Polly Scattergood heran und sie sang I am strong, sang das mit dieser brüchigen Stimme, mit dieser Stimme, deren Besitzerin man immer in den Arm nehmen will, sang das in mich hinein, sang das aus mir hinaus, ließ mich nicht gehen, obwohl ich da aufstehen wollte, aber ich kam einfach nicht hoch, ich hockte da auf der Treppe beim Onkel Otto und flennte nicht mehr und die Elbe hatte wieder Wellen und ein Auto hupte und fuhr langsam vorbei. Ein Leichenwagen. Und die Möwen schrien. Und Polly Scattergood sang und ich war so stark wie ihr lyrisches Ich. Also zerbrochen, zerbröselt, zerfasert, zerstört, verstört, verstoßen, verheult noch. Auf der Treppe beim Onkel Otto. Und ich sagte zu mir: Lena, Du liebst sie doch, Du liebst doch Marie. Steh auf jetzt. Steh auf und geh wieder rein, geh zum Tresen, nimm sie in den Arm und gib ihr einen Kuss. Aber ich konnte nicht aufstehen.
Ein kühler Wind jetzt vom Hafen hinauf. Die Nacht wirft sich über die Stadt. Jetzt wieder Wizo in der Luft. Ich starre Schiffen hinterher und jungen Touristen, die die Balduintreppe runter oder rauf gehen. Ich bleib hier einfach sitzen denke ich, ich bleib hier einfach sitzen und warte darauf, dass die Welt untergeht. Ganz langsam wird sie versinken, wird über die Harburger Berge kippen, wie ein Achterbahnwagen auf die abschüssige Bahn kippt und dann wird ein Strudel zu sehen sein, und alle und alles wird herumgewirbelt. Und aus. So stelle ich mir das vor. Marie beißt mich.
Beißt mir vorsichtig in den Nacken. Eine Gänsehaut kriecht mir über den Körper. Über den Rücken zuerst, dann über den Hintern die Beine hinunter und wieder retour und rein in meine Möse. Und ich greife nach hinten, lege mich dabei zurück, ziehe Maries Kopf zu mir herunter und küsse mich in sie hinein, ganz hinein, ganz, ganz, ganz hinein. Für immer. Und ein Strudel erfasst mich und die Welt geht unter, kippt ab, wie auf einer Achterbahn, für eine Minute oder zwei. Und dann ist alles wieder gut. Alles wieder gut.
Foto: Staro1
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