Ein längerer Ausschnitt vom Anfang des Romans, der langsam entsteht und der, obwohl er ja die Fortsetzung von “Warten auf Ahab” ist, anders daher kommen wird, als er. Aber natürlich werde ich nicht alles hier posten. Schnipsel jedoch, Fetzen, werdet Ihr erwarten dürfen.
Hinterm Zaun der Bauwagenplatz, daran erinnere ich mich so gern, Ihr wisst schon, so ein ganzer Platz hunderfünfigmalhundertfünfzig Meter im Quadrat, grassbefleckt. Und darauf Traktoren und blaue, rote, gelbe Bauwagen, ein paar Zelte auch, ein alter Wohnwagen aus der DDR, so ein Ei, ich weiß nicht wie die heißen, so ein kleines Wohnwagenei eben. Wie? Wefelinger Heimstolz heißen die? Also gut, dann auch ein solch stolzes Heim. Und dann die Leute ums Lagerfeuer: irgendwer singt und dann singen alle. Singen in die Nacht, in den stadtlichthellen Himmel, in das sternenlose Firmament über Stadt und Elbe, über Alster und Isebekkanal. Singen alte Lieder und rappen, machen Musik, machen es sich schön gemütlich in der schon kühlen Herbstnacht.
Das war unsere erste Nacht, nachdem wir vom Gardasee zurück waren, zu meiner Stadt zurück, die ich ihr doch zeigen wollte, dieser Marie, diesem seltsamen Mädchen, in das ich mich verliebt hatte mit allem in mir, das zu Liebe fähig war. Mit Herz und Kopf, mit Brust und Möse, mit allem eben. Und wir saßen bei dem Lagerfeuer und sagen mit, hielten uns im Arm und hielten
uns warm so. Lieder von Bob Dylan und von Dota, der Kleingeldprinzessin, die die ganze Bäckerei will und nicht nur ein Stück vom Kuchen. Wir hörten den Beats zu, die auf alten Eimern geschlagen wurden, zu den Rhymes. Wir küssten uns und saßen da lange, lange, bis der Morgen schräg über die Elbe zog und wir uns verzogen in den Bauwagen, den ein Freund uns überlassen hatte für eine Woche und den wir viel schöner fanden, als meine kleine Wohnung in Steilshoop. Dann liebten wir uns, liebten uns wie in den Nächten am Gardasee: Voll Verlangen, voll mit dem Wunsch ganz einzudringen in das Herz des anderen, in seiner Gedanken, in sein Gefühl, Teil zu werden von ihm, ganz und gar, mit Haut und Haaren und keuchten uns zu achichweißnichtwievielen Höhepunkten in der sterbenden Nacht. Ich das Mädchen mit den goldenen Haaren und sie, die so schwer an sich trug.
Ein Cembalo steht in der Wohnung meines Nachbarn. Bevor Ich Euch von erzähle davon, will ich Euch von dem kurzen Augenblick eines Nachmittages im Juni erzählen, der mich dann, vier Wochen später an die Ufer des Gardasees brachte und mit mir den Mann, den ich an diesem See verließ, wie eine Wassernixe, wie eine Heckensitzerin. Es war der Nachbar, der mich ansprach auf der Treppe unseres Hause und mir anbot, seinen Wohnwagen für eine Woche oder mehr zu bewohnen. Der Wagen, ein älteres Modell sei er, doch gut in Schuss, stünde am Gardasee und es sei das ganze Jahr schon bezahlt, doch könne er, der Nachbar, nicht fahren, denn er sei krank und wolle lieber zu Hause bleiben, in der Obhut seines Arztes. Es sei etwas Ernstes, darüber zu sprechen fiele ihm schwer, ich solle nicht fragen. Ob ich denn aber wollen würde … also wollen würde, dafür zu sorgen, dass er, der Nachbar, den schon bezahlten Jahresbeitrag nicht umsonst an den Campingplatzbesitzer entrichtet hätte? Ich bat mir Bedenkzeit aus, sprach mit meinem Freund, und wir befanden die Idee für gut. Ab der zweiten Julihälfte waren sowieso Semesterferien. Wir konnten also fahren. So kam ich, Näheres wird noch zu berichten sein, an den Gardasee.
In der Wohnung dieses Nachbarn, den umfänglicher zu beschreiben, als Euch jetzt zu sagen, dass er ein Mann von Mitte Sechzig ist, ein ehemaliger Musiklehrer an einer der beiden Schulen Hamburg, welche vor Zeiten Gelehrtengymnasien geheißen wurden, und dass er etwas aus dem Leim gegangen im Laufe der Jahre, wird noch zu leisten sein, denn es ist wichtig. In dessen Wohnung also steht ein Cembalo. Der ehemalige Musiklehrer, dem ich nun einen Namen geben muss, um ihn nicht mehr nur mit seinem ehemaligen Beruf zu benennen oder gar nur als Mann, und den ich deswegen Schröder taufen möchte, weil sein Haupthaar ungefärbt ist – dieser Schröder vermag zu dem Cembalo eine Geschichte vom Blatt abzulesen mit sonorer, wie man wohl sagt, Stimme. Es handelt sich dabei um ein kurzes Traktat, welches, geschützt durch einen Lederumschlag in kitschigem klassizistischen Design auf dem Cembalo deponiert ist . Ich studiere, das mag eine Information von Wichtigkeit noch werden, an der Universität in Hamburg Geschichte. Hier füge ich das Fach meines Studiums indes nur deshalb ein, weil ich versichern möchte, dass sich alles, was mein Nachbar nicht vorzulesen versäumt, wenn das Gespräch auf das Cembalo kommt und es kommt auf das Cembalo, da könnt Ihr sicher sein – kommt darauf schon wegen der Mächtigkeit des Instruments in dem kleinen Wohnzimmer Schröders – historisch richtig wäre, hätte es sich auch so zugetragen.
Schröder versäumt es allerdings im Zweifel auch nicht, mit der Frage, ob ein Schluck Rotwein genehm wäre, zu der Hausbar aus den Sechzigern zu treten, eine Flasche zu köpfen und beiläufig zu bemerken, die Hausbar sei gut dreihundert Jahre jünger als das Cembalo, der Wein sogar gut dreihundertfünfzig und man solle sich nur einmal den Klang dieses alten Instruments anhören beim guten Roten. Dann schlägt er die Tasten an, spielt eine kurze Melodie und sagt, es gäbe da eine Geschichte, die einer geschrieben hätte, vor ein paar Jahren. Der hätte geforscht nach der Herkunft des Cembalos und hätte auch den Weg nachverfolgen wollen, sei dann aber von der ganzen Sache abgekommen und hätte nur dieses kurze Fragment verfasst, welches er, Schröder, beim Kauf des Instruments im Torso gefunden hätte. Auch hätte man sich getroffen zweidreimal und über das Cembalo und seine Geschichte gesprochen, aber weiterschreiben hätte der Mann, der ein Schriftsteller sei, nicht mehr wollen, was schade wäre. Und dann nimmt Schröder die Ledermappe, schlägt sie auf und liest vor:
Er schloss seine Augen. Seine Hände schwebten über der Klaviatur des Cembalos. Als erhöben sich die Tasten, so fühlte er schon die Berührung von Elfenbein und Ebenholz, ganz körperlich bereits, obwohl doch noch ein räumlicher Abstand war zwischen seinen Fingern und dem Instrument. Es war, bis auf seinen stoßweis gehenden Odem, kein Geräusch zu hören. Selbst die Vögel auf den Bäumen vor der Werkstatt schienen zu schweigen und keine Diele knarrte. Die Stille war absolut und einmalig; er empfand sie als sakral, als eine heilige Stille. Sie sprach ihn selig. Da hub er an zu spielen.
Silbern klangen die Töne, so rein und ungetrübt von jeglichem Nebenton, dass er, schon als er die ersten Takte von Johann Matthesons erster Suite für Cembalo anschlug, von einem starken Weinen heimgesucht wurde, welches durch das gesamte Stück anhielt und auch dann nicht von ihm ging, als er eigene Kompositionen spielte. Während ihm die Tränen durch die geschlossenen Lider rannen, nahm er nichts wahr, als die Töne und die salzigen Flüsse seines Paradieses, die ihm von den Augen in den Mund flossen. Sein Gesicht aber war von keiner Unruhe, keinen, dem Weinen eines Menschen sonst beiwohnenden Kontraktionen der Muskulatur entstellt. Er sah aus, als schliefe er einen ruhigen, tränenüberströmten Schlaf.
Der Wechsel der Register, die Manuale, alles ging ohne Geräusch ab. Nichts stört den Silberklang. Und während er weinte und spielte sah er Leiber vor sich, sah Satyrn mit ihren Gespielinnen, sah Körper sich umeinander schmiegen, sah Geschlechtsakte von großer Zärtlichkeit beim Vierfuß und sah Vergewaltigungen, wenn die tiefen Oktaven des Sechzenfußes dunkelsilbrig sein Ohr erreichten. Auch glaubte er, seine Tränen seien größer und folglich von mehr Gewicht, seien salziger gar und bitterer, wenn das Silber des Klanges von schwerem Gewicht war, dunkel, fast wie Blei.
Er spielte Stunde um Stunde, den Tönen, den Bildern und den Tränen hingegeben. Er spielte, als es unbemerkte Nacht wurde und voll Eifer blieb er bei seinem Tun und Träumen, bis in Morgen. Er fiel, die Hände nach dem Fall noch vor sich haltend, als säße er auf dem Hocker noch, die Finger auch später stets in Bewegung, als die ersten Strahlen der Sonne in die Fenster schienen, zur die linke Seite des Sitzes um und riss einige Werkzeuge mit sich, die auf einem Tischchen lagen. Kein Ton kam über seine Lippen, kein Augenlid hob sich. So fand ihn sein Geselle kurze Zeit später; und noch im Bette, in das ihn dieser verbrachte, hielt er die Augen geschlossen, seine Finger aber bewegten sich, als spielten sie die Tasten des Instrumentes. Und er öffnete seine Lider nicht bis zu seinem Tode. Während er, schlafend oder wachend, in seiner eigenen Dunkelheit tonlos die Tasten schlug, hörte er den Klang des Cembalos, sah Satyrn und Nymphen, sah Liebe, Lust und Gewalt, roch den Schweiß von sich windenden Körpern, weinte unablässig, blieb stumm, pisste ins Bett, solange sein Körper noch Wasser hatte, es abzuschlagen, schiss in die Laken, solange sein Körper noch Kot ausscheiden konnte. Und fuhr hinüber zu seinem Schöpfer endlich am siebten Tage, stinkend, spielend, weinend und träumend.
Das Cembalo rettete die Werkstatt nach dem Tod des Meisters. Dessen dralle Frau, die alle Maria nannten, weil sie etwas Heiliges umgab – das, hätte man ihren, nunmehr im Grabe liegenden Manne gefragt, nichts war, als die hysterische Verweigerung jeglicher körperlicher Nähe – die jedoch von ihren Eltern auf den Namen Rotrude getauft worden war, war dem Gesellen zugetan. Dieser, auch schon in fortgeschrittenem Alter, lohnte die Avancen, welche verbunden mit dem großzügigen Angebot, die Werkstatt samt Meisterin zu übernehmen, kaum einen Grund boten, ihnen ablehnend zu begegnen, mit seinem Jawort vor dem Magistrat der Stadt unter Herbeiziehung des Pfarrers. Eine Heirat in der Kirche wollten beide, da das Trauerjahr noch nicht vorbei war, aus Gründen der Pietät meiden. Das Geschäft aber ging schlecht. Nur schleppend verkauften sich die Instrumente aus der Hand des Gesellen. Unrein waren die Töne, die die Kiele erzeugten, wenn sie die Saiten anrissen, jeder Springer machte einen Laut und die Register waren unsauber. Sie waren mit jenen Cembali, die der Meister gefertigt hatte nicht zu vergleichen. Allein die Bemalungen waren einfallsreicher und farbenfroher. Musikalisch aber waren sie, jenen aus anderen Werkstätten kaum ebenbürtig. Jene unerreichbare Überlegenheit, diese Einmaligkeit der Tonbildung, die zu allerlei gotteslästrigen Gerüchten über dunkle Mächte, mit denen sich der Meister verbündet hätte, Anlass gegeben hatten, erreichten jene Kielklaviere aus des Gesellen Fertigung nicht. Und so vermehrte sich der Reichtum des Ehepaares nicht mehr, sondern stutzte sich auf jenen durchschnittlichen Wert herab, der ihnen auch von anderen Instrumentenbauern bekannt war. Es war ihnen ein Graus. Und sie reduzierten ihre Ausgaben nur widerwillig. Zu Weihnachten aber, als es kaum genug Geld im Hause gab, das große Gelage, dass seit den ersten Jahren der Werkstatt der alte Meister zu geben pflegte, abzuhalten, da konnte das Cembalo werden und es kam eine hübsche Summe Geldes in das Haus.
Der Gitarrenspieler spielt noch Lieder, die zu leise sind, als das wir sie erkennen könnten durch die Fenster des Bauwagens, in dem wir nun still beieinander liegen. In meinem Kopf noch das, was ich Euch eben erzählte. So ähnlich, wie ich es Euch gesagt habe, habe ich es damals auch gedacht. Ich denke manchmal in solchen Sätzen. Und ich drehe mich zu Marie. „Findest Du, ich würde manchmal reden, wie eine Oberstudienrätin für Altgriechisch. Also wie so eine ältliche Kurzhaarfrisurfrau, die an einem altsprachlichen Gymnasium unterrichtet?“. Marie lacht, küsst mich auf die Wange, streicht mir über die Brust und sagt: „Klar machste das. Det is scheen, weeste, det is total scheen, wennde so redest. Det mag ich“. Dann lacht sie und küsst mich nochmal.
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