Das Böse der Verzweiflung – die Verzweiflung der Bösen

by | Okt 7, 2024 | Wort & Freiheit | 0 comments

Luigi Cherubinis Medea in der Blauen Halle des Mainfranken Theaters.

Während ich bei Buchbesprechungen nur die rezensiere, die mir auch gefallen – jedenfalls verfahre ich in der Mehrzahl der Fälle so – neige ich bei Theater und Oper zur Freude am Verriss. Aber das vermaledeite Mainfranken Theater lässt mir keine Chance auf eine fröhliche Stunde boshafter Bemerkungen um Mitternacht herum. Stets muss ich loben. Welch ein Graus! So war auch der heutige Opernabend: tadellos, ja grandios! Und ich tat, was man bei der Arbeit eigentlich nicht tun sollte: Ich stand auf, und Simone Barrientos, die ehemalige Kulturaktivistin und Theaterlobbyistin im Bundestag, tat es mir gleich. Sitzen zu bleiben, wäre mir wie eine Schmähkritik vorgekommen.

Medea im MFT war große Oper: großartige Stimmen, ein beeindruckendes Bühnenbild, ein makellos aufspielendes Orchester und eine Regisseurin, die selbst auf die Bühne musste. Denn diese Premiere stand, so der Intendant in seiner Ansprache an das vorbeiströmende Opernvolk, kurz vor dem Aus.
Claire de Monteil sang für die erkrankte Ilia Papandreou die Titelrolle, erhaben aus dem Graben. Auf der Bühne agierte souverän und passgenau die Regisseurin selbst: Agnessa Nefjodov. Eine Lösung, die passte und den wunderbaren Abend in keiner Weise schmälerte.

Großartige Stimmen sangen die großen und kleineren Partien der Oper. Und es ist nur eine kaum beschreibbare Nuance, die mich zwei der Akteure besonders hervorheben lässt. Da ist zum einen Brad Cooper, der aus Australien stammende Tenor, der mit einer an italienische Tenöre anklingenden Stimmlage, fast schon im Belcanto, den Jason sang. Und da ist Milena Arsovska, die Glauke sang. Mit einer reinen, kraftvollen, auch in den Höhen sicheren und nie schwächelnden Stimme machte sie diese eher kleinere Rolle zu einem Höhepunkt der Aufführung. Dass Claire de Monteil hier nicht extra erwähnt wird, liegt an ihrer bekannten und hochgeschätzten internationalen Qualität. Alle Stimmen haben ein hohes Niveau. Da fällt niemand ab – auch nicht die Sänger des Chors. Es ist eine Freude das Ensemble singen und spielen zu sehen! Ich habe in den vergangenen Jahren Opern in Häusern gesehen, in denen man internationale Stars wie Claire de Monteil auf die Bühne holte, die ja auch mit einem Fuß schon sicher auf dem Olymp steht, aber dann kein Ensemble hatte, das mithalten konnte. Nicht so hier.

Worum geht es in dem Stück? Medea, die Tochter des Königs Aietes von Kolchis, ermöglicht es dem Argonauten Jason mithilfe ihrer Zauberkräfte, das Goldene Vlies von ihrem Vater zu stehlen. Sie fliehen, bekommen Kinder. Doch bald wird Jason ihrer überdrüssig. Er verlässt sie, nimmt die Kinder mit und heiratet Glauke, die Tochter des Königs Kreon von Korinth. Medea verfolgt ihn, tötet Glauke bei der Hochzeit mit ihren Zauberkräften, der König fällte einem Attentat zum Opfer, und am Ende ermordet Medea auch ihre beiden Kinder. Ein Stück über die Verwobenheit von Schuld mit einer Sühnetat, die neue Schuld selbst ist. Die Anzahl der Bühnenfassungen seit dem 6. Jahrhundert vor Christus ist Legion.

Luigi Cherubinis Oper zeichnet sich durch ihre Konzentration auf das Wesentliche der Saga und durch die schwelende Musik aus. Es ist eine mitreißende Vertonung des Stoffes. Sicher eine Herausforderung für das Orchester. Es hat sie ohne Fehl und Tadel gemeistert.

Ein großer Opernabend erwartet Sie. Versäumen Sie ihn nicht. Ab der nächsten oder übernächsten Aufführung wird Medea dann von der vorgesehenen Besetzung gesungen. Die Webseite des MFT gibt Ihnen darüber Auskunft.

Dieser Abend aber verführt, angesichts der Qualität, auch zu einer kurzen Bemerkung über das Haus an sich. Das Ensemble kann, in beiden Sparten, mit allen großen Häusern mithalten, auch wenn der ganz große Star (noch) fehlen mag (und ich wünsche mir, dass er quasi aus dem Personal aufsteigt, das dort agiert). Aber die Resonanz auf nationaler, gar internationaler Ebene ist gering. Anders als bei den großen Häusern in Hamburg, Berlin, Frankfurt oder Köln gibt es hier kein Pilgerwesen. Es kommen nicht die Premierenpilger aus Hamburg, Bremen, München oder Stuttgart – von Paris oder London ganz zu schweigen. Dabei hätte dieses Theater, das alles andere als eine Provinzbühne ist, es verdient, beachtet zu werden. Der Intendant, Markus Trabusch, hat große Verdienste daran, das Haus auf das hohe Plateau geführt zu haben, auf dem es nun spielt. Es wird Zeit, dass die theateraffine Öffentlichkeit dies auch über Würzburg hinaus wahrnimmt.

Daten zur Aufführung am 6. Oktober 2024
Claire de Monteil (Medea)
Brad Cooper (Jason (Giasone))
Gustavo Müller (Kreon (Creonte))
Milena Arsovska (Glauke (Glauce, Dirce))
Vero Miller (Neris)
Sandra Harnisch (1. Begleiterin der Glauke)
Hiroe Ito (2. Begleiterin der Glauke)
(Zwei Kinder Medeas und Jasons)
Komparserie des Mainfranken Theaters Würzburg
Opernchor des Mainfranken Theaters Würzburg
E-Chor
Philharmonisches Orchester Würzburg

Musikalische Leitung: Enrico Calesso
Regie: Agnessa Nefjodov
Bühnenbild: Volker Thiele
Kostümbild: Nicole von Graevenitz
Einstudierung des Chors: Sören Eckhoff
Dramaturgie: Philine Bamberger
Dramaturgie: Berthold Warnecke
Auf dem Bild
Medea. Ilia Papandreou (Medea), Herren des Chores und Extrachores
Foto: Nik Schölzel

Leander Sukov

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