Bernhard Torsch zu den Reaktionen auf Urteile im Sexualstrafverfahren

by | Dez 19, 2024 | Wort & Freiheit | 0 comments

Nach jedem spektakulären Prozess und noch mal besonders stark nach einem, in dem es um Sexualverbrechen geht, gehört es zur Folklore, dass das Publikum sich darin einig ist, die Strafen wären „viel zu milde“, aber schon wieder uneins darin, wer von den Wohnzimmerjuristen und Couchhenkern sich die sadistischere Bestrafung des/der Täter auszudenken vermöge. So sind die meisten Menschen, denn schon Adorno hat herausgefunden, „dass Personen von jener Charakterstruktur, die sie als totalitäre Gefolgsleute prädisponiert, in besonderem Maß von Verfolgungsfantasien gegen das nach ihrer Ansicht sexuell Abwegige, überhaupt von wilden sexuellen Vorstellungen geplagt werden, die sie von sich selbst abweisen und auf Außengruppen projizieren“.
So viel zum Geschrei am Stammtisch. Aber was meine ich sonst zu dem Fall? Ich meine, dass Gisèle Pelicot mir ungeheuren Respekt einflößt und ich sie für die wichtigste Person des Jahres halte. Ihre Haltung, sich nicht beschämen zu lassen von den Tätern, nicht gebrochen zu wirken, ist so stark und richtig wie der Slogan „Die Scham muss die Seite wechseln“. Ich habe immer wieder gesagt, es sei ein schwerer sprachlicher Missgriff, Vergewaltigung als „Schändung“ zu bezeichnen, denn es darf keine Schande sein, einem Täter zum Opfer zu fallen, sondern die Schande liegt ganz bei denen, die vergewaltigen. Die Scham der Opfer in einer Kultur der Täter war immer schon eine mächtige Verbündete derer, die sexualisierte Gewalt ausüben.
Was wir, abgesehen von einer strengeren Kontrolle einschlägiger Telegram-Gruppen und anderer Orte, wo sich Vergewaltiger und Vergewaltiger in spe herumtreiben, tun könnten, weiß ich auch nicht so genau. Wenn wir sexuelle Freiheit als Freiheit von Zwang und damit von Gewalt definieren, kann ich nur noch mal Adorno zitieren: „Sexuelle Freiheit ist in einer unfreien Welt so wenig wie irgendeine andere zu denken“.
Da selbst viele der eifrigsten Kämpfer/innen gegen sexuelle oder sexualisierte Gewalt meist nicht mal ansatzweise ahnen, wie weit diese verbreitet ist und wie geradezu habituell sie auch von Staatsgewalten zur Unterdrückung und Demütigung eingesetzt wird, und weil die Vorstellungskraft der meisten sich nicht mehr so weit anstrengen kann oder mag, eine freie Welt überhaupt zu denken, bin ich nicht allzu optimistisch, jemals mehr zu sehen als dämliches, oft kontraproduktives Paragraphenschmieden.

Leander Sukov

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