Der antisemitische Angriff auf den Berliner Rabbiner David Alter hat zu Diskussionen über einen moslemischen Antisemitismus auch in Deutschland geführt. Ich halte die Idee einer religiösen Zuschreibung von Antisemitismus aus mehreren Gründen für eine verheerende Diskussion.
Antisemitismus ist das was er ist: Antisemitismus eben. Ihn zu attribuieren, mag der naive Versuch sein, auf die Gefahr hinzuweisen, dass der Konflikt zwischen Israelis und Araber importiert wird, soweit er es nicht überhaupt schon ist, und zu einem hiesigen Konflikt zwischen Juden und Moslems wird. Aber diese naive Sicht greift viel zu kurz. Antisemitismus wird durch diese Attribuierung herausgelöst aus seinen gesellschaftlichen Verankerungen und durch Zuschreibungen zu einem externen, nicht der sogenannten Zivilgesellschaft zugehörigen Problem gemacht. Zu einem Problem von Migranten, von Fremden also. Das gilt es zu verhindern.
Denn Antisemitismus ist strukturell in den Gesellschaften Zentral- und Osteuropas verankert. Er hat eine bis tief in das frühe Mittelalter zurückreichende Tradition. Und er wurde – und wird – immer wieder politisch benutzt. Ihn zu einem moslemischen Problem zu machen, zu einem der radikalen Rechten in Deutschland, zu einem Problem Ungarns und seiner Faschisten oder der Nationalbolschewisten in Russland bedeutet, ihn bis zur Unkenntlichkeit aufzusplittern. Das kann nicht gewollt sein.
Seit Beginn der Finanzkrise geistert eine Grafik durch das Netz in der der Rothschildbank (die es so gar nicht gibt) eine vollkommene Herrschaft über die globale Geldmenge zugeschrieben wird. Da ist von einer Summe die Rede, die weit die Geldmenge und die Staatsschulden übertrifft, die real existieren. Diese Grafik ist antisemitisch. Sie ist antisemitisch wie die Zuschreibungen, die immer noch nicht verschwunden sind und welche „die Juden“ als homogene, auf untergründige Art vernetzte Gruppe sehen. Es ist dabei unerheblich, von wem der Antisemitismus ausgeht. Er bleibt rassistisch. Aber er darf meiner Meinung nach nicht zusätzlich auch noch dazu missbraucht werden, einen neuen Rassismus zu schaffen, in dem man ihn nun vorrangig bestimmten Migrantengruppen zuschreibt.
Nach verschiedenen älteren Umfragen (u. a. Allensbach) neigten 1995 mindestens 15 bis zu 25 % der deutschen Bevölkerung antisemitischen Meinungen zu oder vertraten sie. Nach einer Forsa-Umfrage vom November 2003 stieg dieser Anteil von 20 % (1998) auf im Durchschnitt 23 %:
• 28 % glaubten, Juden hätten in der Welt zu viel Einfluss.
• 36 % fanden, Juden zögen aus der Vergangenheit Vorteile und ließen die Deutschen dafür zahlen.
• 61 % fanden, man solle endlich einen Schlussstrich unter die Diskussion der Judenverfolgung ziehen.
Die im Juni 2002 veröffentlichte Studie des Frankfurter Sigmund-Freud-Instituts und der Universität Leipzig ermittelte einen deutlichen Anstieg gegenüber 1999 um 5 % auf 36 % der Befragten, die sich klar antisemitisch äußerten. Das latente antisemitische Potential zeigen auch regionale Wahlergebnisse rechtspopulistischer bis rechtsextremer Parteien wie REP, DVU oder NPD, welche bei der Landtagswahl in Sachsen 2004 9,2 % errang. Durch populäre Protestparolen erhielten sie dort Zulauf und zumindest vorübergehende Akzeptanz in der Gesellschaft. Dazu scheint neben sozialen Problemen wie der Arbeitslosigkeit, die etablierte Parteien bisher nicht verringern konnten, auch ein mangelndes Bewusstsein gegenüber der Gefahr des Rechtsextremismus beizutragen. (Wikipedia: Antisemitismus nach 1945)
Natürlich darf keine Weißwäscherei hinsichtlich des kruden Antisemitismus betrieben werden, der in moslemischen Kreisen hier und in den arabischen Staaten besteht und der sich nicht scheut, selbst die saudummen „Protokolle der Weisen von Zion“ zu verwenden. Das antisemitische Pamphlet ist eine Fälschung, der oder die Verfasser sind letztlich unbekannt (Umberto Ecos Roman „Der Friedhof in Prag“ beschäftigt sich literarisch damit). Nein, um diese Weißwäscherei geht es mir selbstredend nicht. Mir geht es um das Gegenteil, wenn man so will: um die Gefahr, dass über den Weg der Zuschreibung die sogenannte Zivilgesellschaft weißgewaschen wird, die eben nicht weiß ist.
Die seit Jahren stattfindende Hassdiskussion gegenüber Moslems, die in einer sich selbst als links gebärdenden heterogenen und glücklicherweise kleinen Gruppierung zur Schau gestellten Kriegslüsternheit, die geschichtsvergessene und die politischen Realitäten verleugnende Überbewertung der „westlichen Zivilisation“, bis hin zu ihrer Karrikatur als die eines zivilisatorischen Übermenschentums, nutzt den Antisemitismus als Vehikel. Sie, also diese Position, ist damit selbst antisemitisch: Sie benutzt die Opfer der Shoa und des gegenwärtigen Antisemitismus für ihre politischen Zwecke.
Antisemitismus ist nicht auseinander zu dividieren. Er bleibt, was er ist: Eine gefährliche, mörderische Dummheit, die es zu bekämpfen gilt, ganz gleich, von wem er ausgeht.
Antisemitismus 2012
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