Als ich jung war

by | Nov 12, 2023 | Wort & Freiheit | 0 comments

Als ich jung war
kochte meine Mutter abends
mein Essen für den nächsten Tag.
Ich hatte ein Ersatzschlüsseldepot
bei der Mutter meines Freundes
im Stockwerk über uns.
war das Haus viel höher,
wir stiegen die Regenrinne hinauf
bis in den zweiten Stock und dann auf den Balkon.
bauten wir im Keller Landschaften auf Tische
und erklärten uns den Krieg. Wir haben ihn nicht
verstanden wir uns von selbst und schwiegen
unter einer Decke aus Angst vor dem Jugendheim
Jo und ich haben es geliebt
uns zu hassen kam uns in den Sinn
dass uns jeder Schlag prägte?
zählte Jo jeden Tag alle Paragraphen im Dschungel
nie fehlte der hundertfünfundsiebzigste und
Mona und ich waren so leis’ und erprobten
alle wechselfarbige Gewalt
still so still wegen der Angst meiner Mutter
vor dem Jugendamt und dem Kuppeleiparagraphen.
trug der Typ hinterm Tresen der Eckkneipe
im Sommer ein Sporttrikot vom HSV
wenn er den Arm hob sah man eine Null auf dem Oberarm.
war am Ende der Straße ein Trümmerfeld
und manchmal gastierte ein Zirkus dort
und ich balancierte auf den Schultern meines Großvaters
mein Herz für das Mädchen auf dem Hochseil.
soff ich eine dreiviertel Flasche Wodka und
konnte mit Jesus betete Susi mir am Tag danach vor.
bestand mein Freund Jürgen darauf
dass er auf den Gleisen der U-Bahn
nach Hause gehen konnte.
flog ich ein Stück durch den Sturm
wie Mary Poppins bis mein Großvater mich
aus dem Wind pflückte.
war Alice aus dem Behelfsheim unsere Prinzessin,
Achim und ich retteten sie mehrmals
an jedem Sommertag.
verlor ich mich in der Tee-Stube der Fabrik
mit Haut und Haar an die Frau mit dem gütigen Blick
für eine ganze ungütige Nacht
hätte ich mir Jo gewünscht, aber ich hatte
nur Nachmittage unter ihm
war kein Halten mehr
übergab ich meine Unabhängigkeitserklärung
an meine Mutter und die Welt
lachte ohne Grund
lief ich mit den beiden Mädchen
wasserwerfernass bis auf die Knochen
durch Altona in ein besetztes Haus
und wir liebten uns bis das Blut der einen
nicht mehr auf die anderen tropfte
warf ich mich an viele Hälse
und blieb doch immer durstig
sagte Mannis Vater mach leise
die Negermusik
sagte Mannis Mutter
ihr lauf ja herum wie Zigeuner
sagten fremde Menschen
unterm Führer hats das nicht gegeben
gleich ins KZ die Langhaarigen
festbinden und die Haare ab
bekam Tante Berta Besuch
bin in der NPD sagte der Besuchsvater
scheiß Nazi sagte ich
Berta ließ einen Heiermann rüberwachsen
nahm man mir die Mandeln raus
und ich musste Vanilleeis essen
bis ich einen Hass entwickelte
besuchte mich mein Vater ein einziges Mal
weil eine Lebensversicherung fällig wurde
sagte meine Mutter Haltung! Disziplin!
schickte mich Kalle im vor beim Zigarettenkaufen
weil ich größer war und älter aussah
verliebte ich mich in Maria die Wirtin
der Kellerkneipe bei der Schule aber sie
hatte Angst vor ihrem Freund
war nichts so schön wie der Geruch
von Brigitta und ihr lannges krauses Haar
überflutete alle meine Häfen
war kein Ende in Sicht.

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