Bahnsteig

by | Mai 22, 2013 | Wort & Freiheit | 0 comments

Ubahn_westfriedhof_muenchenEr schlug zu. Und als er seine Hand zur Faust ballte, als er mit voller Wucht gegen den Kopf des Mannes hieb, der bis eben noch, bis zur Sekunde vor dem Schlag, niemand Besonderes gewesen war,nur einer, der auf den Zug gewartete hatte, auf diesem, außer ihnen, verwaisten Bahnsteig, da war es ihm, ihm, der die Hand nun ballte, als schlüge nicht er zu, sondern als wäre er die Faust einer großen, schwarzen, übermächtigen Wut, die sich seiner bemächtigt hatte, irgendwann im Verlauf des Tages, der Woche vielleicht, vielleicht auch schon viel länger. Vielleicht hatte diese Wut in ihm gesessen und auf den Moment gewartet, in dem sie über ihn kommen konnte, siegreich alle Eingrenzungen niederzureißen vermochte, vielleicht war diese Wut von Anfang an in ihm gewesen, war gezüchtet worden in vollgepissten Aufzügen, in Hausfluren von kalter, dreckiger Sachlichkeit, auf Schulhöfen und auf den Straßen in seinem Viertel, mehr vielleicht aber noch auf den Straßen, die nicht in seinem Viertel lagen, auf Straßen voll mit Menschen, deren Gesichter anderes ausstrahlten, als die Gesichter in seinem Kiez.
Er hatte ein Recht auf Neid. Man hatte immer ein Recht auf Neid, wenn man ferngehalten wurde von einem Glück, das es doch zu geben schien, irgendwo zu geben schien. Ja, auf dieses Glück durfte man neidisch sein, eifersüchtig gar, grün. Natürlich dachte er das alles nicht in jenem Sinne, wie einer überlegt nachdenkt, wie einer sich Gedanken macht, sie herstellt, zusammensetzt aus Wissen, aus Erleben, aus den Stücken seiner Erfahrung. Nein, der Junge, den die Wut antrieb, wie ein Motor eine Maschine antreibt, nahm diese Gedanken nur von weit wahr, spürte sie neblig in sich, sah Bilder. Bilder von Liebespaaren auf Bänken vor untergehender Sonne, Bilder von SUVs in glänzendem Schwarz, Bilder von Leuten mit VIP-Bändern in Clubs, Bilder von Restaurants mit weißen Tischdecken auf denen Bestecke lagen und Gläser standen, Bilder von Häusern mit Vorgärten, Bilder von Laptops und Tablets, Bilder von Vätern und Müttern an gedeckten Frühstückstischen, Bilder von Stränden und Mädchen in Bikinis. Die bilder aus Kitsch und Katalogen, aus Fernsehsendungen und dem stetigen Hinterherschauen jagten durch ihn in einer wilden Jagd.

Der Mann, den die Faust so unvermittelt unter dem Auge traf, schwankte, fiel dann, zeitlupig, verzögert, sich zur Seite drehend, in einer grotesken, schraubenartigen Bewegung in den von tausend Schuhen erzeugten Dreck des Bahnsteigs.
Von der Arbeit gekommen war der Mann, und er war müde schon gewesen, als er aus dem Haus getreten war, in dem er mit dem ihm eigenen Gemisch aus Hingabe und Abscheu, aus Akribie und Distanz getan hatte, was zu tun ihm aufgetragen worden war.
Diese Abgeschlagenheit hatte ihn dazu verleitet, nicht zu seiner Frau und dem kleinen Sohn fahren zu wollen, nicht nach Hause also, sondern in einen der Nightclubs, die sich allenthalben in der Südstadt breit machten, die den Gast mit Leuchtreklamen und den Bildern der Tänzerinnen lockten und deren Athmosphäre ihn, den Mann, zugleich anzog, als auch abstieß, in denen er nie mehr tat, als zu trinken und dem Tabledance zuzusehen. Meist hielt man ihn frei, ließ ihn aus sonderbarem Respekt in Ruhe, verwickelte ihn nicht in Gespräche, fragte nicht nach, ob er eine der Frauen einladen wolle. Er genoss diese Ehrerbietung, genoss das manchmal zu vernehmende Flüstern, die verstohlenen Blicke, die Art mit der man ihm kurz, die Distanz wahrend zunickte.
Der Schlag war wie ein Blitz auf ihn gefahren, hatte ihn von den Füßen gerissen und umgeworfen. Im Fallen erst sah er das Gesicht des Jungen. Und während für einen kleinen Moment es dunkel wurde um ihn, empfand er etwas, wie eine innere Verbundenheit im dem, der ihn so unvermittelt geschlagen hatte. Ein Anklang an ihn selbst spielte einen kurzen Ton, brachte ein verschwommenes Bild hervor, das ihn zeigte mit Freunden vor zwanzig oder dreißig Jahren.
Er wehrte sich gegen die drohende Bewusstlosigkeit, schaffte es, das Dunkel zu vertreiben, nahm den Bahnhof wieder wahr. Instinktiv legte er die Arme um den Kopf. Er wollte hier nicht sterben, wollte auch nicht als ein Bündel Mensch in einem Krankenhaus aufwachen, als ein Bündel Mensch, das auf die Handreichungen von Betreuern angewiesen war.
Er musste zur Mitte des Bahnsteigs gelangen, dorthin wo eine Werbetafel stand, die den Perron teilte und für die Dienste einer Pfandleihe warb, musste die Plakatwand als Rückendeckung nehmen, um irgendetwas zu tun, das ihn aus dieser Bredouille befreite . Der Junge trat mechanisch auf ihn ein, trat ihm gegen die Arme, trat ihm in den Magen, in den Unterleib. Jetzt spürte der Mann die Schmerzen, krümmte sich zusammen. Er konzentrierte sich, seine Angst nahm allen Willen zusammen, und dieser Wille vollführte eine Drehung seines Körpers um die eigene Achse. Der Mann, immer noch liegend, verlagerte den Schwerpunkt, nahm die Knie‘ wie ein Schwungrad zur Hilfe, drehte sich dann noch einmal und noch einmal, fühlte, wie sein Körper gegen die Beine des Jungen stieß, sah – dunkel-hell-dunkel – dass der Junge über ihn stieg.
Der Junge stieg behände über den Körper des Mannes, als sein Opfer sich liegend um seine Achse zu drehen begann. Beinahe wäre er dabei gestolpert. Er hatte nicht damit gerechnet, dass der da vor ihm, sich trotz der Tritte so gewandt noch bewegen konnte. Die Wut drückte auf seinen Magen, sie fuhr ihm in die Beine, in die Arme, sie machte ihn zittern und er brauchte, nachdem er über den rollenden Körper gestiegen war, einen Moment lang, um sich selbst wieder in eine Lage zu bringen, mit der diese Wut zufrieden zu stellen war, eine Lage, aus der heraus er wieder, ganz blind gemacht von dieser Wut, zu treten konnte, bis der Treibstoff alle war, aufgebraucht und sich das Gefühl einstellen würde, ganz ruhig zu sein, ganz ruhig und mächtig, ganz ruhig und unbesiegbar, ganz ruhig und endlich jemand der austeilt und nicht einsteckt. Mechanisch fasste er in seine Jackentasche, mechanisch ließ er die Klinge des Springmessers aus dem Heft fahren.
Der, der lag, dem das Blut aus den Mundwinkeln lief in kleinen Bächen, dem das Jackett zerrissen war und der einen Schuh verloren hatte, der dessen aus der Hose gerutschtes Hemd den Blick auf einen behaarten Bauch freigab, diese Häufchen Mensch, bemerkte die Pause, die nun eingetreten war.  Das war seine Chance. Er konnte es wagen, die Deckung sinken zu lassen. Seine rechte Hand schnellte in sein Jackett. Er brauchte etwas, bis er es schaffte, die kleine schwarze Pistole aus dem Halfter zu ziehen, diese gute Freundin, die ihn schon so lange begleitete, auf die er nichts kommen ließ, die er liebevoll reinigte und ölte.
Er sah die Umrisse des Jungen als einen Schattenriss vor dem Neonlicht des Bahnhofs. Der Mann riss die Waffe hoch und drückte ab. Der Schatten taumelte, strauchelte und fiel. Etwas Kaltes drang in die Brust des Mannes, fuhr in ihn, als wäre es ein fremdes, böses Wesen. Der Schmerz, den das eindringende Metall verursachte war hell und laut, grässlich laut, der Mann könnte den Schmerz hören, spürte ihn auf eine Weise, auf die er noch nie einen Schmerz gespürt hatte. Doch so schnell wie der Schmerz in ihm aufgeleuchtete hatte, so schnell erlosch er wieder, verrann und es machte sich eine Wärme breit, die ganz unvertraut war. Wie die Wärme im Mutterleib, dachte der Mann.
Auf ihm lag schwer der Körper des Jungen. Dann sah der Mann ein weißes Licht. Vor dem Licht stand der Junge und wartete auf ihn. Alles war friedlich …

[Foto: Guido Wörlein]

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