Graben

by | Jan 22, 2013 | Wort & Freiheit | 0 comments

Warum fragen Sie? Was geht Sie das an? Ich trinke immer bei der Arbeit. Immer. Ich trinke überhaupt immer. Auch wenn ich nicht arbeite. Auch wenn ich abends in meiner Hütte sitze. Haus zu sagen, wäre gelogen, glatt gelogen. Hütte – das trifft es. Zwei Zimmer, Bad, Küche. Holzbau, wenn Sie wissen, was ich meine. Zugig. Kalt im Winter. Aber man ist ja abgehärtet. Kommt von der Arbeit hier. Den ganzen Tag im Freien. Immer in Bewegung. Es gibt ja viel zu tun. Ich komm‘ gar nicht zu Ruhe. Mal einfach im Frühjahr, im Sommer, auf einer der Bänke zu sitzen, das ist nicht drin. Nee, nee, bilden Sie sich da mal nicht ein, ich könnte hier zu irgendeiner Jahreszeit einen faulen Lenz schieben. Immer in Bewegung, immer am Graben. Darum heißt es ja auch Grab, weil es gegraben wird. Von mir. Jedes Grab hier: Von mir gegraben. Jeder Sarg von mir mit Erde bedeckt. Jede Pflanze hier von mir gepflanzt. Immer nur Tote. Jeden Tag Tote. Und ich grabe und grabe.
Als meine Frau noch lebte, die dumme Sau, die alte Schlampe, diese blöde Kuh, da konnte ich mich freuen auf den Feierabend. Da war das Essen auf dem Tisch. Aber dann ist sie gestorben, die dumme Sau, die alte Schlampe, diese blöde Kuh, deshalb ist sie das ja überhaupt, Sauschlampe, blöde Kuh, weil sie gestorben ist, einfach gestorben und hat mich allein gelassen. Und ich habe ihr das Grab gegraben. Und ich habe ihren Sarg mit Erde zugeschüttet und einen Strauch auf ihr Grab gepflanzt. Immergrün. Wie das klingt: Immergrün. Immergrau wäre besser gewesen. Ich grabe und grabe. Jeden Tag. Sogar meine eigene Frau habe ich eingegraben, die, die mich einfach allein im Leben gelassen hat. Im Leben zwischen all den Toten, zwischen all den Gräbern. Zwischen all den Grabsteinen. Im Leben. Deshalb saufe ich. Jeden Tag. Immer. Immer.

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