Der Regen macht alles schlimmer. Den Dreck, die Häuser, die Menschen, die Kneipen. Alles. Die Allee hinunter. In Hauseingängen Bettler. Haben Schutz gesucht, vor dem verfluchten Regen. Gebe den ersten mein Kleingeld. Die anderen gehen leer aus. Die Häuser hier: Grau mit rauhen Fassaden. Stuckberaubt. Vorgärten gibt es nicht. Strasse, Trottoir, Häuser. Die Gehsteige sind schmal. Daneben parken Autos. Die meisten alt. In der Mitte der Fahrbahn befindet sich ein Mittelstreifen. Darauf Bäume, die sich geben, als wären sie Strafgefangene.
Widerlich. Alles hier ist mir widerlich. Am Ende der elenden Allee: ein Straßencafé. Ich setze mich unter einen der Schirme, bestelle Kaffee. Beobachten. Gegenüber im Hauseingang: eine alte Bettlerin. Wie die wohl war, als sie jung war. Als sie Träume hatte von einer Zukunft. Hier gibt es keine Zukunft. Nur Vergangenheit und ewige Gegenwart. Zukunft halluzinieren nur die Säufer, wenn sie im Rausch davon schwafeln, was sie morgen machen werden. Und es doch nicht tun können. Wer säuft, hat nur Gegenwart. Nichtmal Vergangenheit hat er.
Mittagzeit. Das Café wird von den Angestellten notleidender Firmen besucht, die auch keine Zukunft haben und keine Vergangenheit. Kleine Fluchten in große Träume. Ein Jahr, oder zwei. Dann kommen die nächsten. Wer hier leben muss, befindet sich im Unklaren, im Wechsellicht zwischen Leben und Tod. Die Angestellten reden über Kinder und Vermieter und Urlaub und Frauen und Männer und Fußball und Prinzen und Fernsehshows. Ordentliche Gespräche: Als wären sie Roboter. Vorgegebene Themen, die die Hirnkapazitäten vorm Denken schützen. Über Fernsehstars und all die schnell verglühenden Kometen aus untalentierten Talentshows. Als würden die Angestellten jene kennen, von denen sie reden. Oder: "So einen Elfer nicht klarzumachen … Das liegt an den Gehältern" oder "Ich seh’ mit meinem Mann gerne die Kinderchöre". Widerlich. Nichts anderes. Nichts Weiteres. Nur das. Nur das. Jede Mittagspause und dazwischen auch und dann nach Hause, irgendein Abendessen, lieblos und standardisiert. Fernsehen. Vielleicht sogar Wein oder Bier dabei. Dann schlafen. Manchmal Sex. Oder nie. Die meisten hier sehen aus, als hätten sie nie wirklich Sex gehabt. Gefickt. Geschlafen. Fertig.
Ein paar Kids laufen vorbei. Man kann ihnen ansehen, woher sie kommen. Aber ich bemerke noch nicht, dass die Kleidung aller hier auch Uniform ist. Unterscheidungsmerkmal. Die können sich die Klamotten sonst wo kaufen. Sie bleiben Uniform. Bei den Männern die hellen Blousons oder die schrecklichen Jacketts in Weinrot oder Lila oder Grün oder die Art wie sie die Krawatten binden. Bei den Frauen die Kleidung, bei der der Rock nicht zur Bluse passt, oder zu gut. Und die Schuhe. Bei den Kids die Schuhe. Hauptsächlich die Schuhe. Und der Rest natürlich auch. Aber noch bemerke ich es nicht. Erst als ich die S-Bahn nach Blankenese genommen und wieder verlassen habe und auf dem Platz vor dem Bahnhof stehe. Da bemerke ich es. Die Menschen hier sehen anders aus. Gekleidet mit der widerlichen Attitude von Genauigkeit und Lockerheit. Gischt befinde ich. Schaum auf dem Meer derer, die das Wasser sind.
Ich gehe die Straße Richtung Süllberg hinunter. Dann biege ich zur Elbe ab. Kleine Geschäfte in hübschen Häusern. Hier haben sich die gelangweilten Gattinnen gut situierter Männer Beschäftigungen beschafft. Kunstgewerbe, Innenausstattungen. Alles hübsch und teuer und biologisch abbaubar. Kunstgewerbe statt Gunstgewerbe, Innenausstattungen statt Ausbruch, Political Correctnes statt politischer Aktion. Alles muss eine Art haben. Die Frauen tragen karierte Jacken und Jeans und braune Schuhe und hellblaue Blusen. Manche mit Tüchern um den Hals: Paisleymuster hauptsächlich. Die Männer entweder Anzüge, meistens schwarz oder anthrazit oder dunkelblau, oder Blazer mit Goldknöpfen und helle Hosen und Schuhe, die so teuer sind wie ein Monatsgehalt der Angestellten in dem Strassencafe in der Allee ausmacht.
Also hinunter zur Elbe. Hier mischen sich die Menschen. Aber die aus Blankenese und Nienstedten fallen auf zwischen den Anderen. An ihrer Art erkennt man sie und an ihrer Kleidung. Ich setze mich in ein Café und ordere wieder Kaffee und dazu diesmal Apfelkuchen mit Sahne. Auf der Elbe: Schiffe und Boote. Der Regen hat aufgehört oder war hier nie. Alles ist hübsch und beschaulich. So als würde es Altona und die anderen Stadtteile, die nicht so sind wie dieser, nicht geben oder nur in einer anderen Welt. Als gäbe es keine Armut und keine Not und keine alten Bettlerinnen in Hauseingängen. So hübsch ist es hier, so beschaulich, dass mir schlecht wird und ich mich fast übergebe. Nur mit Mühe gelingt es mir den Brechreiz zu unterdrücken.
Mit offenen Augen träume ich mich in eine der Villen. Träume mir ein Szenario. Ich finde mich zum Kotzen. Und selbst in diesem Wachtraum empfinde ich noch die Ferne zu der Person die ich mir imaginiere in der imaginären Umgebung, empfinde, dass da nichts wäre zwischen uns, weil mir alles kalt ankäme und getrennt wie durch Scheiben.
Ich zahle, gehe an der Elbe Richtung Hamburg zurück. Je näher ich an die Stadt komme, desto normaler sehen die Menschen aus. Selbst ihre Bewegungen ändern sich und ihre Sprache klingt anders und ihre Gesichter zeigen ihre Gefühle. Ich gehe und gehe, fast gemächlich. Ohne Eile. Gehe an Teufelsbrück vorbei und überlege, ob ich mich hier nicht auf einen weiteren Kaffee verrasten sollte, entscheide mich aber anders. Gehe weiter, durch Övelgönne, wo die Menschen auch nicht arm sind, aber trotzdem anders, gehe den Berg zum Altonaer Rathaus hinauf und dann weiter am Bahnhof vorbei, dorthin wo alles noch trostloser ist und noch grauer, so grau, dass die Häuser hier fast schwarz erscheinen.
Und dann die Allee hinauf und rechts ab, bis ich bei ihr bin und wieder bei mir. Und ich nehme sie in den Arm und ich bin voll Glück, weil wir keine livrierten Lakaien und keine Villa und keinen Blick auf die Elbe haben und keine Gischt sind.
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