Der fiktive Raum als Widerschein keiner Wirklichkeit
Zu den großen Erzählern fiktiver Wirklichkeit gehört Philip Roth. Seine Schilderungen von der Welt als Faktizität im fiktiven Raum, also die dialektische, kybernetische und kausale Verkettung des Gesellschaftlichen, folglich Soziologischem, und des Persönlichen, also des (soziologischen, psychologischen) Ausfluss des Seins, gehören zum Besten, was die internationale Literatur zu bieten hat. Insbesondere Exit Ghost sei hier genannt. Was Roth‘ Romane dabei sonderbar interessant macht, ist die durchgängige und also dauerhafte Verbindung des Individuums mit der es umgebenden Umwelt. Er verlässt niemals die ausgewogene Koppelung zugunsten eines schmalbrüstigen Inneren.
Die Situation, also die Einfügung des Individuums in die Gesellschaft, und die Gesellschaft als Ergebnis von Herrschafts- und Machtinteressen – man muss beides aus Gründen der Luzidität unterscheiden – sind als Schilderungsgrößen in der Literatur ins Hintertreffen geraten. Es ist dabei nicht so, dass sie nicht vorkämen. Ihre Bezüglichkeit aber hat sich verschoben. Es wird das Bild des Einzelnen in einer variablen, d.h. austauschbaren, Welt gemalt. Nicht durchgezeichnet ist dabei die Welt, die auf das Individuum wirkt. Sie erscheint nur als Kulisse. Selbstverständlich ist meine Kritik keine, die als grundsätzlich zutreffend gelten kann. Sie kritisiert auch nicht Einzelwerke oder die Summe der neu erscheinenden schöngeistigen Bücher, sondern die Tendenz, also eine Strömung, die sich meiner Meinung nach durchgesetzt hat.
Nicht nur Berlin ist voll mit realen Personen, deren Schicksal dem von Franz Biberkopf aus Döblins Alexanderplatz gleicht, die also hoffnungsvoll und immer wieder enttäuscht dem völligen Zusammenbruch entgegengehen, während sich die sie umgebende Welt als Katastrophe aus Herrschaft und Macht darstellt. Sie, die Biberkopfs, haben keine Möglichkeit, dem Drangsal dieser Welt etwas entgegen zu setzen. Sie hoffen darauf, in den Wirbeln nicht unterzugehen. Eine Hoffnung die trügt.
Und sie hoffen deshalb, weil sie nicht erkennen (können), dass diese kapitalistische Welt determiniert ist, dass die Mechanismen, nach denen sie funktioniert eben nicht dem Wollen unterliegen, sondern Gesetzmäßigkeiten – zu denen freilich auch gehört, dass sich die Lage der Biberkopfs verbessern lässt, wenn darum gerungen wird. Dann aber nicht, weil die Einsicht siegt, weil also höhere Gehälter, verbesserter Kündigungsschutz, kürzere Arbeitszeiten Ergebnis von Argumentation und Verstehen sind, sondern der Preis für weitere Auseinandersetzung höher ist, als der Preis für das Nachgeben.
Seitwärts von den Marginalisierten, den Hartz-IV-Empfängern, den an etwas, das vollmundig Integration genannt wird, gescheiterten Migranten, den in unwirtlichen Gebieten fortgesperrten Asylsuchenden, also seitwärts von jenen, die bar jeder Hoffnung und oft voll von Hoffnungsillusionen sind, steht das Neue Bürgertum.
Als Post-68ger sind sie auf der Suche nach einem Kokon aus Heimeligkeit und Innenwelt, den sie intellektuell mit einer Art von Widerstandstravestie versehen. Dieser – falsche – Widerstand ist gerichtet auf die Bewahrung von Werten (Bildungsbürgertum, Schulwesen, schichtanachoretischem Leben usw.) und der Verteidigung von Attitüde und Positur. Sie – die Neuen Bürger – sind jene, die zugleich auch die Kultur der Bürgergesellschaft bestimmen, die also jene Vorkehrungen schaffen und jene Mechanismen, die dazu dienen, ihren Machtanspruch zu bewahren. Wobei sie selbst davon ausgehen dürften, auch einen Herrschaftsanspruch zu haben. Allerdings irren sie. Nicht sie, die ja zwischen einem gebildeten Kleinbürgertum und dem unteren Rand des Großbürgertums changieren, herrschen, sondern jener Teil des Großbürgertums, der über die Produktionsmittel direkt oder indirekt verfügt.
Die Neue Bürgerlichkeit, also die gesellschaftsphilosophische Basis der Neuen Bürger, ist sowohl als direkter Widerschein von Abstiegsängsten und einer Scheinerkenntnis der soziologischen Determinanten des Spätkapitalismus zu verstehen. Man hat Angst und macht es sich schön, damit man die Angst vergisst.
Diese Neue Bürgerlichkeit hat seit – mindestens – Mitte der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts große Teile von Literatur ad acta gelegt und verdrängt. Die großen Werke der Literatur der Arbeitswelt, wie sie u.a. von Max von der Grün geschaffen wurden, sind jenen gewichen, die das ganz individuelle Leiden von Figuren beklagen, die aus der Mitte dieser Neuen Bürgerlichkeit geboren werden. Belesenen Figuren, die mit Tränen in den Augen ihren Latte Macchiato schlürfen und von diesem und jenem gebeutelt werden. Dass dabei auch gleich die gesamte DDR-Literatur auf den Misthaufen geworfen wurde, ist kein Versehen, sondern ein Gewolltes. Von Erich Köhler bis Hermann Kant soll nicht mehr in den oberen Regionen einer quasi bürgerlich-höfischen Kultur mitspielen, was als Schmuddelkind wahrgenommen wird. Der unlängst unternommene – allerdings aufgrundd der mangelnden intellektuellen Stärke des Autors gescheiterte – Versuch, in der Tat die DDR-Literatur vollständig als Unliteratur zu deklarieren, ist Ergebnis einer Denkungsweise, die direkt aus der Neuen Bürgerlichkeit herrührt. (Werner Fuld im Interview: http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/1734518/)
Sie hat es verstanden, die Kunst weitgehend hegemonial anzugreifen und sich auch, bis auf Nischen, durchgesetzt. Ein Roman wie eben „Berlin Alexanderplatz“ ist kaum zu erwarten und gäbe es ihn, so würde er sich nicht etablieren können. Auch deshalb nicht, weil er eine Wirklichkeit schildert, die nicht geschildert werden soll.
Die Rückbesinnung, vielmehr die Kehrtwende, auf Werte der frühen Moderne und zugleich eines neuen Biedermanntums, die neue Vorrangstellung von Familie, Pünktlichkeit, individualistischer Daseinsvorsorge, der Niedergang des Sozialstaates und Entsolidarisierung sind die Eckpunkte der Neuen Bürgerlichkeit. Sie gehen einher – direkt – mit einer neuen Phantastik, die sich der Welt entzieht, in dem sie sie in Form eines Extrakts schildert. Und extrahiert wird, was sich einpasst in das Bild von Welt, welches dem Neuen Bürgertum genehm ist, wenn auch nicht immer angenehm. Der Angriff soll unterbleiben. Und er unterbleibt.
Aber so verarmen Literatur und Kunst natürlich, so ist kein Blumentopf auf dem Balkon der vollsanierten Altbauwohnung zu gewinnen. Durch die Jahrhunderte war Literatur in Europa auch immer Anklage der bestehenden Verhältnis und Aufruf zu etwas Neuem, Besseren. Die verzweifelte Friedensdichtung zur Zeit der großen Ritterepen, die Literatur im Verlauf und Nachgang des Dreißigjährigen Krieges, die Literatur der Romantik (z.B. Heines „Deutschland ein Wintermärchen“) und des Vormärz, die Literaturen später dann, zeigen die Verwobenheit der Dichter mit jenen, die über das Herzeleid hinaus an den Umständen leiden. Zwischen Romantik und Vormärz freilich lag die Restaurationsepoche und der Biedermeier, dessen Hang zur Beschaulichkeit, Innensicht, Familie und Ruhe hässlich mit dem Jetzt korrespondiert, ohne freilich dasselbe sein zu können. Geschichte wiederholt sich nicht, jedenfalls nicht, ohne bei der Wiederholung zur Farce zu werden. Die Formen, die sich der Biedermeier in der Literatur wählte, die Stimmungsbilder und Skizzen, entsprechen auf eigenartiger Weise der Literatur des Heute, auch wenn sie natürlich in Sprache und Komposition anders daherkommen. Aber der gesellschafts-philosophische Wesensgehalt ist verwandt.
Uns bleibt, denke ich, zu tun, was damals schon getan wurde. Es muss, als Gegenbewegung ein neuer Vormärz her, es muss ein neues Junges Deutschland geben. Es muss etwas geschehen, um die Literatur aus der biederen Umklammerung zu lösen. Denn das, was vorherrscht ist, auch wenn es sich selbst als widersetzlich sieht, ist nichts anderes, als der Gummibaum zwischen den Seiten.
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