Wir brauchen einen literarischen Aufbruch

by | Mai 10, 2012 | Wort & Freiheit | 0 comments

200px-Walther_von_der_Vogelweide_Weingartner_HandschriftZunächst einmal das: Künstler haben keine Pflichten, sie müssen nichts, nicht einmal Kunst machen. Das gilt auch für Schriftsteller. Es gibt keine Pflicht gesellschaftliche Prozesse, ja Gesellschaft als Ganze abzubilden, ihre Unzulänglichkeiten, ihre Schwächen, das in ihr bestehende Ausbeutungssystem. Nein, Künstler müssen sich nicht damit beschäftigen.
Aber sie sollten es tun. Die Aufforderung, sich auf die Seite derer zu stellen, die unter den Gegebenheiten leiden, die also jene sind, die vereinzelt werden, ausgebeutet, drangsaliert, ermordet, ist allerdings Aufforderung, welche die Ethik betrifft und kein moralisches verlangen.

Die kapitalistischen Gesellschaften entwickeln sich zu ihrem Selbsterhalt in einer Weise, welche die Schwächsten, zunächst die Schwächsten, in immer größerem Maße von der Teilhabe ausschließt. Nach den Schwächsten werden die folgen, die sich noch in der Mitte der Gesellschaft wähnen. Denn es gibt keinen anderen Weg. Der Ziel des Kapitalismus ist die Profitmaximierung und es gänzlich unmöglich ihm dieses Ziel systemimmanent zu verbauen.

Man kann die Profitmaximierung nicht per Gesetz beschränken, wenn die Beschränkung nicht zugleich neue Wege zu einer Profitmaximierung beinhaltet. Es ist eine Schimäre, zu glauben, die bürgerliche Demokratie sei eine von ihrem eigenen Unterbau losgelöste Form der gesellschaftlichen Verfasstheit. Sie ist eine Regierungsform, die für den Kapitalismus denkbar ist. Und sie ist so lange genehm, wie sie den notwendigen Akkumulationsprozessen nicht im Weg steht. Sie wird obsolet, wenn sie ihre Aufgabe nicht mehr erfüllen kann: Also dem Kapital die bestmögliche Verwertungschance zu gewähren. Das Kapital interessiert die Demokratie nicht. Eine Diktatur ist jederzeit akzeptabel.
Dagegen zu schreiben bedeutet, für eine Gesellschaft zu schreiben, in der die Eigentumsfrage anders beantwortet wird, als jetzt. Wobei Eigentum sich natürlich nicht auf den persönlichen Besitz des Einzelnen bezieht, also nicht auf Auto, Sofa und Kleingartenlaube, sondern auf das Eigentum an Produktionsmitteln. Man muss deshalb keine rosaroten Zukunftsbilder malen, man muss deshalb nicht die Ebene der hohen Literatur verlassen und trivialisieren, was vielleicht, wenn wir Glück haben, kommen mag in zig Jahren. Man kann von einer besseren Welt schreiben, in dem man schildert, was diese gegenwärtige Welt ist, für das Individuum, das in ihr lebt, für das Handeln, das Sein des Individuums.
Wir brauchen, glaube ich, einen neuen Realismus, einen der sich über die solitäre Darstellung von Innenansichten erhebt und sie zugleich deutlich macht an ihrer dialektischen Beziehung zum Äußeren. Wir brauchen dabei kein Agitprop, wir brauchen keine holzschnittartige Darstellung, wir benötigen keine moralinsauren Lehrbücher, die als Belletristik getarnt daher kommen. Nein, wir brauchen eine ganz neue Literatur, eine, die sich verabschiedet von jenem Teil der postmodernen Philosophie, die uns ein Ende der Geschichte einreden wollte und doch nur meinte, man solle endlich die Klappe halten und den Widerstand gegen diesen Kapitalismus fahren lassen.

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