Grass und die Meute

by | Apr 5, 2012 | Wort & Freiheit | 3 comments

Man müsste Grass’ Gedicht kritisieren … und man kann es nicht mehr tun, weil man sich, jedenfalls für den Moment, gemein machen würde, mit dieser heterogenen Meute, die ihn nun jagt.

Man würde sich gemein machen, mit denen, die nicht nur einmal mehr beweisen, dass es kein Feuilleton mehr gibt, welches diese Bezeichnung auch verdient, sondern auch mit jenen, die ihre strategischen Ziele mit der taktischen Grass-Schelte besser im Konsens der Gesellschaft verankern wollen.

  • Wenn führende, noch dazu an Hochschulen lehrende, Feuilletonisten Grass, und Wolf und Walser gleich mit und damit allen, auf die ihre im großbürgerlichen Herrentum verwurzelte Schelte zutrifft, ihre kleinbürgerliche Herkunft vorwerfen und diesen Vorwurf objektiv zu nichts anderem benutzen können, als die Schuld des deutschen Großbürgertums am Erstarken des Nationalsozialismus in der Weimarer Republik und den Verbrechen des deutschen Faschismus zu relativieren, wenn also führende Köpfe der Literaturkritik die Abs’, Krupps, Stinnes, die Junker in der SS, in der obersten Heeresführung, die Schreibtischtäter in den Universitäten, die SS-Lagerärzte usw. quasi über die generationsüberdauernde Schuld des Kleinbürgers aus der Verantwortung rücken,
  • wenn andere führende Köpfe der Literaturkritik einen Subtext des grass’schen Gedichtes herbeihalluzinieren und dann die eigene Halluzination als Inhalt des Werks sezieren,
  • wenn stets in beleidigender Form auftretende Publizisten, denen nach meinem Gefühl die Atombombe auf Teheran heute lieber als morgen wäre, Grass als Prototypen eines gebildeten Antisemiten verspotten,
  • wenn sich also all diese und anderen mehr nicht entblöden, den Wahrheitskern des Gedichtes zu verwerfen und zugleich die notwendige Kritik an der fehlenden analytischen Umfassentheit des Poems – die ja offensichtlich ist –, dazu benutzen diesen Wahrheitskern zu desavouieren, in dem man Grass nun aufgrund dieses Mangels einen Antisemiten schimpft,

dann weiß man, in welchem Staat man lebt: In einem, in dem jene, welche die Macht dazu haben, die öffentliche Meinung, dann wenn es sein muss, im Gleichschritt marschieren zu lassen.

3 Comments

  1. “die fehlende analytische Umfassendheit des Poems” – Hier liegt für mich des Pudels Kern. Denn es fehlt dem “Poem” nicht nur umfassende Kenntnis, sondern überhaupt Präzision in der Sache und der Sprache. Deshalb schadet es in Form und Inhalt gerade jenen, die die Politik der israelischen Regierung scharf kritisieren.
    Ich möchte das nur an einer Formulierung demonstrieren : “das…iranische Volk auslöschen könnte”. Hier wird unzutreffend unterstellt, es gehe bei dem in Planung befindlichen Erstschlag um einen Atomwaffen-Angriff und mit der Vokabel “auslöschen” werden in dem Kontext zwei Assoziationen geweckt: die geplante “Auslöschung” der Juden Europas und die Drohung Ahmandinejads Isarel “auszulöschen”.
    In welche Lage bringt mich, die ich die Planung eines israelischen Angriffs auf den Iran ablehne, eine solche Übertreibung und Verkehrung? Ich gerate in jene Erklärungsnot, wie ich sie hier gerade demonstriere, die mich dazu beinahe zwingt, die Regierung Israels, deren Verhalten ich verantwortungslos finde, zu verteidigen, nur weil ich darauf beharre, dass die Kritik präzise und in einer dem Vorgang angemessenen Wortwahl geschieht?
    Nein, Herr Grass hat hier, wie schon öfter, der “Sache”, für die er vorgeblich eintritt, einen Bärendienst erwiesen. Das kommt, unterstelle jetzt einmal ich, weil Grass stets im Subtext etwas ganz anderes meint, nämlich die Rechtfertigung des Grass´.
    (Ich darf das – und auch so hochmütig – sagen, denn ich entstamme wie er dem Kleinbürgertum und kenne und erkenne diesen Zwang zur Selbstrechtfertigung. – Wie eben wieder demonstriert.)
    Was bleibt als Kern übrig von diesem Altherren-Geschwätz? Hat mein Opa schon immer gesagt: Nie wieder Krieg. Schon recht.
    Die konkrete Situation im Nahen Osten wird von anderen, analytisch auf höherem, wenngleich niemals “umfassenden” Niveau überzeugender geführt. Grass macht Wind. Gegenwind gegen alle, die einen möglichen Angriff auf den Iran verhindern wollen.

  2. Es muss heißen:

    Die Diskussion über die …konkrete Situation…

    Sorry.

  3. Ja, das Problem von Grass war und ist Grass. Aber das Problem ist ja auch das Problem der ständigen Zuschreibungen: Von der Gruppe 47 bis zum Vorwurf als 17-jähriger in die Waffen-SS eingezogen worden zu sein, sind ihm Rollen angetragen worden, die er bereitwillig angenommen hat, weil sie ihm offenbar recht waren. Er hat, als politischer Schriftsteller, der er ja ist, im Grunde niemals politisch geantwortet, sondern immer auf einem persönlichen Niveau. Er stellt sich DAR, er stellt sich VOR, er gibt eine Vorstellung. Zugleich aber hat er natürlich auch Diskussionen befördert, angeregt, vertieft. In diesem Falle scheint er in seine eigene Falle getappt zu sein. “Maulheld” als Bezeichnung für Ahmadinedschad, ist eine Relativierung der aggressiven Innen- und Außenpolitik der iranischen Regierung. Die “Auslöschung” spielt in der Tat mit der Shoa.

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