Angel of the Morning
Vielleicht hatte ich sie schon ein paar Jahre vorher im Beat Club gesehen, den ich meistens bei meinem Nachbarjungenfreund schaute. Im Wohnzimmer seiner Eltern saßen wir auf dem Teppich und zogen uns die in Schwarz-Weiß übertragene Sendung rein. Ja, ich bin mir sicher, da schon hatte ich Billie Davis gesehen, diese puppenartige Sängerin. Bewegungslos fast sang sie ihr Lied, so als höbe eine Engelsfigur in eine Kathedrale plötzlich zu einem Gesang an. Elf war ich da wohl. Und vermutlich war das Lied da nichts als Musik für mich, ausschließlich Musik — und nicht, wie wenige Jahre später, Musik, die zu meinem Besitz wurde, in dieser ganz abgesonderten Welt, die vielleicht nicht nur ich im Inneren trage, sondern viele, möglicherweise jeder Mensch gar und in der das sich darin Befindliche ganz ungeteilt wird, alleiniger Besitz dann ist, – und auch der Text wurde mein eigen, wurde ein Text zu meinem Leben. Wie viele, viele andere Lieder und Texte. Beschreibungen meiner selbst also, Interpretationsräume, Filme in denen ich agierte oder nur die Regie führte, oder beides war, Akteur und Regisseur.
Jedenfalls lief «Angel of the Morning» im Radio. Das war 1971. Am 4. Juli. Ich weiß das Datum deshalb so genau, weil am Tag, als diese kurze, intensive, alles formende und einfarbig schwarze Romanze begann, der Radiosender den Tod von Jim Morrison verkündete. An jenem Tag also, als ich von seinem Tod erfuhr, füllte sich mein Leben mit einer unbekannter Intensität, enthob sich seiner Üblichkeit und seines Alltags, begann, ja es nicht falsch es zu sagen, auf eine unerwartete Art ganz neu. Und obwohl die Romanze nur ein schnell vergangenes Jahr hielt, so war sie auf eine eigentümliche Art schon vom ersten Moment an ewig. Überlagert wurde sie von anderen Romanzen, die Grautöne trugen, schon nach Wochen. Von Liebesabenteuer die das, was dieses ausmachte, nur als spielerische Einlage in sich trugen, die also mehr waren als die mit S. und doch weniger immer dann, wenn der Moment der Leidenschaft die anderen Momente verdrängte. Auch später gelang es mir nur wenige Male einen Traummoment so schwarz zu tapezieren, wie es all jene Traummomente mit S. waren.
Das Lied lief auf NDR 2. Das ist sicher. Musik für junge Leute wahrscheinlich, denn die Sendung lief am frühen Nachmittag. Und zum Abend hin kehrte meine Mutter, bei der ich lebte, von der Arbeit zurück. Die Nachmittage hindurch aber war ich unbeaufsichtigt.
Ich lag krank zu Hause auf der Couch, auch daran erinnere ich mich — eine Erkältung, die schon abklang. Noch aber lag ich danieder, schwitzte in meine Pyjama, langweilte mich, las vielleicht auch ein wenig.
S., der direkt von der Schule kam, schellte, kurz nachdem die Sendung begonnen hatte. Der Song untermalte S‘. Auftreten. Für alle Zeit nun, das wusste ich sofort, als ich das Lied am Abend erneut hörte, würde es die Erinnerung an S. begleiten, sie jedoch auch hervorrufen, jene nur auf die Kupido reduzierte, ganz und gar von allem Anderem, wirklich allem Anderen gelöste Innigkeit. Eine Leidenschaft, die es nur gab, wenn die Akteure zusammentrafen und allein mit sich waren. Eine sprachlose, alltagslose Hingabe ohne irgendeine weitere Gemeinsamkeit. Nichts war da, was sonst zwischen mir und meinen Freunden bestand und was späterhin unfortdenkbar aus jeder Art von Liaison wurde. Kein Übereinkommen, keine Verhandlung von Wünschen, kein Gespräch über Abneigungen und Vorlieben, kein Austausch über das Selbst eines jeden Beteiligten, über das Erleben der Situationen. Nichts dergleichen. Es war, auch wenn es Gespräche gab zwischen uns, eine stumme Beziehung, deren Stille manchmal laut wurde durch die einsamen Ausrufe, die wir, jeder für sich, aufgrund der Handlungen von S. taten. So wenig wir über uns sprachen, so wenig sprachen wir über Musik oder Sport, über Filme und Helden, über Mädchen, über Bücher oder Zukunftserwartungen, über Eltern, über Liebe gar oder Sehnsüchte, Wünsche. Nichts, was sich außerhalb des engen Raumes unserer Begierden befand infiltrierte unser Tun. Wir vermieden jede Nähe außer der körperlichen und jener psychischen, die alleinig auf das körperliche Resultat gerichtet war. Alles drehte sich nur um die Befriedigung des Verlangens. Schrankenlos, unmoralisch, ungezügelt, verwerflich — und doch verwarfen wir keine Handlung, solange sie uns zu unseren Zielen brachte –, boshaft, siegreich, gewalttätig und gewaltig.
Und ewig singt dazu eine Frau mit artifizieller Stimme das Lied vom Engel des Morgens, singt es als musikalische Projektion eines ganz und gar artifiziellen Nexus.
http://www.zeit.de/2016/41/klaus-wellershaus-radio-ndr-popmusik-nachruf
ich kenne dieses Lied aus der Zeit ca.1967 von Pipi Arnold