Altmann (erstes unlektoriertes und unkorrigiertes Typoscript)

by | Okt 1, 2014 | Wort & Freiheit | 0 comments

Eckerfördener Texte I

Altmann verlor die Beziehung zur Gegenwart als der Zug den Bahnhof Hamburg-Harburg verließ. Der Verlust geschah plötzlich und völlig unvorhergesehen. Er kündigte sich nicht an, es fiel nichts vor, das Altmann hätte als sonderliche Begleitung der Sache interpretieren können, Blitze vor den Augen etwa oder ein Dröhnen in den Ohren, auch lief kein Zittern durch seinen Körper. Altmann ging der Bedeutungen, der Beziehungen zum Gegenwärtigen, dem Wissen und Verstehen um Sachen und ihren Nutzen, ihrer Bedeutung auch, verlustig, als hätte es gar keinen Verlust gegeben, als wären die Fragen, die sich nun aufwarfen, auftürmten, aufbergten Fragen ganz allgemeiner, üblicher Art, als wären sie, zumindest von ihm, schon immer gefragt worden und als stünden zwar noch die Antworten aus, jedoch waren die Fragen auch derart, dass er, Altmann, annahm mit den Antworten sei irgendwann, eher früher als später, zu rechnen.
Und dennoch wusste Altmann: Es war anders. Er wusste es, weil er spüren konnte, dass sich sonst niemand die Fragen stellte, die sich nun, kurz hinter Hamburg-Harburg, zwangsweise, zwangshandelnd mag man sagen, ihm aufdrängten wie Teppichverkäufer. Weshalb gab es diese merkwürdigen Fahrzeuge, von denen er die Mechanik, aber nicht den Sinn kannte? Weshalb befand er sich in diesem Zug und warum waren die Abteile derart gestaltet, wie sie gestaltet waren? Was wollte er auf der Konferenz in der Hansestadt? Warum war es sein Bestreben Windkraftanlangen zu verkaufen? Aus welchem Grunde hatte er ein Zuhause in Darmstadt und wieso befanden sich in diesem Zuhause, ja was war das überhaupt ein Zuhause, eine Heimat, ein Ort, Fleck, Lebensmittelpunkt, eine Frau und ein Kind? Zu welchem Zweck heiratete man, wozu zeugte man Leben? Von allen Dingen, von allen Akten kannte er den Ablauf, die Mechanismen, das zum Ingenieurswesen Gehörende und so weiter. Er wusste, wie Windkrafträder funktionierten, aber nicht, warum es sie gab. Er wusste alles Notwendige über Verbrennungsmotoren, aber nicht den Grund ihrer Existenz. Weshalb waren sie erfunden worden. Was hatte Carl Benz und Otto Daimler bewogen, die innovative Leistung zu erbringen, Benzinmotoren und Kraftfahrzeuge zu entwickeln? Was die Gebrüder Wright von der Erde abzuheben? Wo lag der Antrieb für James Watt die Dampfmaschine zu verbessern? Wo war der Sinn ihrer Innovation? Weshalb hatte die Gesellschaft, und warum überhaupt gab sie, die Gesellschaft, die Institution Ehe geschaffen? Warum besaß er, Altmann, ein Kraftfahrzeug, aus welchem Grund hatten die Frau in dem Zuhause und er geheiratet? Gab es einen Grund für das Kind, also für die Erschaffung von Leben in einer absichtlichen Handlung und nicht als zufälliges Ergebnis von Lustbefriedigung — er konnte sich nicht besinnen. Sie hatten die Zeugung geplant. Aber wieso? Es kam ihm alles fremd an.
Altmann blickte aus dem Fenster. Der Zug fuhr jetzt am Hafen vorbei. Er stand auf, nahm seinen Laptopkoffer von der Gepäckablage und stellte ihn neben sich. Hunderte Male schon hatte er kurz vor dem Einlaufen von Zügen in Bahnhöfe, die Altmanns Ziele gewesen waren, sein Gepäck heruntergenommen und neben sich gestellt, rechtzeitig, um nicht in Eile zu verfallen, wie es manchen geschah, die erst während des schon begonnenen Bremsvorganges ihr Gepäck herunterhangeln. Die Frage aber war: Weshalb besaßen Leute, auch er, einen tragbaren Rechner; zu welchem Zweck gab es überhaupt Rechner? Jahrtausende lang war es ohne Rechner gegangen. Auch ohne Schrift, ohne Algebra, ohne Kleidung. Altmann zog das Jackett aus. Dann die Hose. Die anderen Passagiere sahen schweigend zu, bis er sich auch der Unterhose entledigte. Dann erst protestierten sie gegen die Unbekleidetheit seines Körpers. Altmann aber verstand nicht, was es daran auszusetzen gab keine Kleidung zu tragen. Ein Mitarbeiter des Bahnunternehmens eilte herbei. Hastig, aufgeregt, hilflos. Altmann spürte die Hilflosigkeit des Mannes und folgte um so bereitwilliger den Anweisungen der Aufsichtsperson, um deren Panik und Ratlosigkeit nicht zu vergrößern. Man schob Altmann in ein leeres Abteil. Als der Zug zum Stehen gekommen war, eilten Polizeibeamte herbei. Altmann bemühte sich höflich zu bleiben um die allgemeine Aufgeregtheit nicht anzuheizen. Sich wieder zu bekleiden lehnte er jedoch strikt ab.
Im Krankenhaus führte man die üblichen Eingangsuntersuchungen durch, brachte ihn in die Aufnahmestation, sedierte ihn später, obwohl das nicht nötig war, denn er war ja nicht nervös oder gar von Histerie ergriffen und lies ihn dann schlafen. Als er erwachte, fast 12 Stunden später, war seine Frau bereits an seinem Bett. Auch hatte sie ihm schon eine Unterbringung in einer Klinik in Darmstadt besorgt. Das hatte einige Mühe gekostet, war schließlich jedoch gelungen, weil Altmanns bekannt waren in der Stadt, die Unternehmerfamilie Altmann, in allerhand wohltätiger Vereinen engagiert, oft Teil der wohlwollenden Berichterstattung der regionalen Presse. Das hatte, Frau Altmann wusste um ihren Einfluß, schließlich geholfen in kurzer Zeit eine Lösung zu finden. Die Frau hielt Altmanns Hand. Der aber schwieg lange. Überlegte, ob er die Frage stellen sollte, die ihn angesichts seiner Ehefrau umtrieb, kam dann zu dem Schluß, es könne hilfreich für ihn sein, Antworten zu erhalten und fragte also, laut und akzentuiert wie ein Schauspieler auf einer Bühne, in die Stille des Zimmers hinein: Weshalb haben wir geheiratet?

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