Das soll ein kleines Büchlein werden. Nach Uhrzeit sortiert. Und natürlich (also keine Angst …) wird es nicht zu allen Stunden solche Bilder geben:
9 Uhr
Der Main fließt wintersträge noch, doch ist die Luft schon frühlingswarm. Ich lieg im Gras, der Himmel über mir ist kitschig blau, es kreisen Vögel hoch unter keinen Wolken. Die ersten Bienen niedrig über ersten Blüten. Die Zweige alter Bäume tragen Knospen. Das wird ein gutes Jahr.
Wie Nebel bilden sich zwei Schemen neben mir. Und aus den Schemen werden Leiber, Menschen. Ein Mann und eine Frau, noch jung. Feldgrau ist seine Uniform, ins Gras geworfen ist das Barett und der Tornister. „Den ganzen Weg bin ich gerannt“, sagt er, „ich habe eine halbe Stunde nur, dann geht der Zug“. Sie weint, sie nimmt ihn in den Arm und küsst ihn. ‚Inniglich‘, denk ich, ja inniglich, das ist das rechte Wort für diesen Kuss‘. Ich fühle mich, wie aus der Zeit und auch dem Raum genommen. Es ist als wäre ich nicht dort, wo ich doch bin. Verändert hat sich nicht der Main. Doch fehlt die neue Brücke nun. Und auch die Häuser, Menschen, Boote sind verändert. Es ist, als blickte ich auf eine Leinwand. Um mich das Dunkel des Kinosaals, und vor mir der Film, die falsche Wirklichkeit. Doch das hier hat nicht Schauspieler und Regisseur, die Requisite wird vom Leben selbst verwaltet. Das hier ist wirklich, denn es wirkt auf mich. Bin ich am falschen Ort zur falschen Zeit? Hat eine Zeit, ein Ort von fern in meine Zeit, zu meinem Ort sich ganz verirrt?
Der Junge sagt, der Krieg, er würd‘ nicht lange dauern. Schon bald würd‘ er ihr aus Paris Parfum nach Franken schicken und käm‘ dann selbst auch bald nach Hause.
Und wieder liegen sie sich küssend in den Armen. Von Liebe reden sie, und über gegenseitige Versicherung von Treue und Angedenkens kommen sie zu ihrer Zukunft. Sie sagt, die Eltern würden ihn sehr mögen, er könne sicher sein, mit einzutreten ins Geschäft. Und Kinder haben würden sie, sagt er, wie Orgelpfeifen.
Ich seh, wo sie ihr rechtes Bein über das seine legt, das Blut. Seh unter ihrem Schuh, dem weißen Strumpf, dem bunten Rock, die abgerissenen Beine. „Er kommt nicht wieder“, sage ich. Doch was ich sage, kann die beiden nicht erreichen, es bleibt in meiner Zeit. Ich hör ihn schreien, betteln, seh ihn starren auf seine abgeriss’nen Beine, seh, wie er versucht sich aufzurichten. Ich seh, wie er versucht, zu seinen Stiefeln hinzukriechen, in denen seine Schenkel stecken, die jetzt nichts mehr mit ihm verbindet. Sie küsst ihn, sagt, sie freue sich schon auf den Tag, wo er zurückkommt. Die Kapelle würde spielen für ihn und seine Kameraden auf dem Perron. Und sie würd‘ dort sein mit den anderen und fiel ihm um den Hals dann. Ich hör, wie seine Schreie schwächer werden, wie sie ersterben und er stirbt. Ich kann den Anblick nicht ertragen und wende meine Blicke ab von ihm und hin zum Main und als ich dann zurückblick auf den Platz im Gras, da neben mir, ist da nur Gras und ein paar Blüten, kein Halm geknickt und frühe Bienen suchen Nahrung.
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