Annelie

by | Nov 16, 2017 | Wort & Freiheit | 0 comments

Annelie steigt die Treppe hinauf. Ihr Atem geht schwer. «Früher bin ich hinaufgeschwebt», denkt sie, «ja, wirklich hinaufgeschwebt». Stufe für Stufe nimmt sie, stemmt ihren Körper mit den Beinen voran, schleppt dabei die beiden schweren Einkauftüten mit sich, kämpft sich voran bis in den zweiten Stock, stellt die Einkauftüten ab. Holt Atem. Braucht fast zwei Minuten, bis es einiger Maßen geht. Sie erinnert sich, die Anstrengung in den Knochen, an ihre Kindheit. Kurz nur. Aber was ist schon ‚kurz‘ bei Erinnerungen, wenn doch jeder Gedanke, wie kurz er auch sein mag, alle Zeit umfassen kann. Sie sieht sich im Hörsaal, sieht ihre Jeans, sieht sich einen Joint rauchen. Vietnamkonferenz. FU Berlin. Da war sie noch ganz leicht, da konnte sie noch schweben. Und träumen, da war noch alles Zukunft, ganz persönliche Zukunft, die gehörte ihr, ganz allein ihr. Zukunft als Eigentum. Eigentum ist Diebstahl. Das merkt sie jetzt. Sie hat sich die Zukunft nur gestohlen. Und dann ist sie ihr ganz abhandengekommen. «Ich war nur ein kleiner Dieb», denkt sie, «die Zeit war dann doch ein schlauerer Räuber, hat mir die Zukunft jeden Tag vom Leben genommen und ich habs gar nicht gemerkt.» Sie merkt, wie die Kräfte wiederkommen mit dem wiedergewonnen Atem. «Oma, runter vom Balkon. Unterstütz den Vietkong», singt sie. Hinter der Tür von Teckelmanns raschelt es. «Immer am Spion», denkt Annelie, «die wäre eine gute Blockwartin geworden». Annelie greift die Tüten und nimmt die nächsten Stufen in Angriff.
Im dritten Stock stellt sie die Tüten ins Eck neben der Tür, sucht den Schlüssel, findet ihn in ihrer Jeansjacke statt im Mantel, den sie drüber trägt, schließt auf, ruft «Hans!», kriegt keine Antwort, ruft wieder «Hans! Ich habe ungarische Salami mitgebracht. Extra für Dich!», hört wieder nichts. Und eine große, graue, böse Angst kriecht aus der Tür und wirft sich über Annelie. Die geht in die Wohnung, lässt die Tüten draußen stehen, geht nicht langsam, traut sich aber auch nicht sich zu eilen, geht verhaltenen Schrittes. Wohnzimmer: nichts, Arbeitszimmer: nichts, Küche: nichts. Das Bad auch leer. Und nun in das Schlafzimmer. Und da liegt Hans. Liegt auf dem Bett. Trägt die geliebte alte Lederhose, trägt Turnschuhe und T-Shirt. Und das Gesicht: Grauweiß. Auf dem Nachtischchen ein Zettel. Annelie nimmt ihn. «Ich hätte nicht ertragen nach Dir zu gehen, verzeih mir, ich liebe Dich», steht da. Mehr nicht. Nur das. So war er immer. Karg. Alles karg. So war ihre Liebe, unverbrüchlich, zuverlässig, aber karg. «Du Feigling», denkt sie, «Du elender verschissener Feigling», und sieht ihn an. Zorn steigt in ihr auf. Mächtig, gewaltig, ein ganzes Gebirge aus Zorn, wie die Dolomiten, schroff, kalt, eisig. Und der Zorn schnürt ihr das Weinen weg. Keine Träne läuft ihr über die Wange. Sie fingert ihr Smartphone aus der der Jacke, braucht mehrere Versuche, bis ihre zitternden Finger die 112 gewählt haben. Sie sagt ihren Namen, sagt die Adresse, sagt dann «mein Mann ist geflohen, in den Tod geflohen. Kommen Sie schnell, bitte retten Sie mich.»
Regungslos verbleibt sie auf dem Bett. Kein Blick auf Hans. Starr blickt sie auf die gerahmte Fotografie neben dem Schlafzimmerspiegel. Sie und Hans in der ersten Reihe, im Laufschritt, untergehakt, als könnte keine Macht sie trennen, beide vor einem Transparent. «Wir wollen das schöne Leben!»

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