Ich kann den Toten nicht helfen

by | Mrz 6, 2021 | Wort & Freiheit | 0 comments

Ich kann den Toten nicht helfen. Nicht wirklich helfen, jedenfalls. So sehr ich mich auch bemühe: Ich kann den Toten nicht helfen. Und ich bemühe mich sehr. Ja, ich bemühe mich sehr. Mit allen meinen Wörtern. Und doch: Alles Bemühen scheitert. Das liegt nicht an mir. Es sind die Lebenden. An denen liegt es. Oder am Menschen, an seiner Art, daran, wie die gemacht ist, an den Genen. Oder es liegt an der Entropie, daran, dass alles vergeht in Brand, in Hitze, durch die Zeit. Ich werfe die Wörter wie Seile über die Gräber und die Lesenden, die Lebenden fangen sie auf. Wir ziehen, aber es erhebt sich kein Toter.
Bin ich der Lesende, so geht es mir genauso. Gryphius wirft mir Seile zu und ich ziehe. Und Tucholsky tuts, ich ziehe. Es wirft Yirgalem Fisseha, und ich greife nach dem Seil. Doch wie ich auch ziehe, kein Toter hebt sich aus dem Grab. Weil ich nicht sehen kann, was jene sahen, wie du nicht sehen kannst, was ich vor Augen hab, wenn meine Seil‘ ich drehe auf meiner Reeperbahn.
„Was sind wir Menschen doch? ein Wohnhaus grimmer Schmertzen.
Ein Ball deß falschen Glücks / ein Irrlicht dieser Zeit.
Ein Schauplatz herber Angst / besetzt mit scharffem Leid /
Ein bald verschmeltzter Schnee und abgebrante Kertzen.“,
schreibt Gryphius uns. Deshalb die Seile. Deshalb das Ziehen. Das scharfe Leid, ich möchte es so gerne forttun aus der Erinnerung der Toten, die grimmen Schmerzen sollen in den Gräbern bleiben. Doch es gelingt nicht.
Schreib ich über die Magdeburger Bluthochzeit, über das Morden, das große Morden der kaiserlichen Armee in der Stadt, schreib ich, wie ein Landsknecht sein Schwert stößt in den Bauch einer Schwangeren und sie aufschlitzt ganz und gar, so seh ich ja nicht meine Erinnerung, sondern nichts als einen Film, eine gemachte Retrospektive an Hollywoodfilme, Ölgemälde, schon einmal Vorgestelltes. Weit, weit ist das von Ort und Zeit entfernt. Ich kann vom Blut schreiben, das knöcheltief die Magdeburger Straßen, hie und da, bedeckte, das klebrige, stinkende, gärende, rote, ins Braun changierende Blut. Ich kann über das Kind schreiben, das einer der Kaiserlichen aufspießt auf seiner Hellebarde und dann fortschleudert meterweit. Alles grauen kann ich aufschreiben, aber es bleibt nur Wort, und es wird nur Film im Kopf, es wird nicht wirkliche Erinnerung, selbst wenn es wirkt, selbst wenn der Mensch, der es liest sich dann erhebt und kämpft für eine bessere Welt, bleiben die Toten, die toten Kinder, Frauen und Männer in ihren Särgen.
Ich kann von den Mädchen schreiben, die von den Mördern des Dash vergewaltigt und verbrannt wurden, ich kann von der Frau schreiben, die die Kindersoldaten der Lord’s Resistance Army zwangen mit einem Sack, und in dem waren die Köpfe ihres Mannes und ihrer kleinen Söhne, über einen Dorfplatz in Afrika zu ziehen und dabei Choräle zu singen. Sie hatten ihr vorher die Lippen abgeschnitten. Davon kann ich schreiben. Daber die Köpfe bleiben in dem Sack und die Lippen, sie wachsen nicht nach.
Ich bin ohne Macht über die Toten. Ich kann ihr Leid nicht von ihnen nehmen. Und doch schreibe ich für die Lebenden. Die Lebenden lesen was ich den Toten schreibe, die aber lesen es nicht. So wie ich lese, was Gryphius den Toten schrieb oder Tucholsky. Aber ich als Zuschauer meiner gemachten Erinnerungen lerne daraus, dass ich zwar den Worten zuschauen mag, dass ich den Film schauen mag, der in meinem Kopf entsteht, dass ich aber nicht mehr zuschauen wollen soll dem Lauf der Dinge. Damit in vielen Jahren, in hundert vielleicht oder in tausend, eine Schriftstellerin, ein Lyriker über die Liebe schreibt und über die Schönheit des Himmels, weil er sich gar nicht mehr vorstellen kann über Vergehen in Schmerz zu schreiben oder über den Widerschein brennender Städte auf den tief ziehenden Wolken.
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I can’t help the dead. Not really helping, anyway. As hard as I try, I cannot help the dead. And I try very hard. Yes, I try very hard. With all of my words. And yet: all efforts fail. It’s not me. It’s the living. It’s up to them. Or in people, in their way, in how they are made, in their genes. Or it is because of the entropy, because everything goes by on fire, in heat, through time. I throw the words like ropes over the graves and the readers, the living catch them. We move, but there is no dead man.
If I am the reader, I feel the same way. Gryphius throws me ropes and I pull. And Tucholsky does it, I move. It throws Yirgalem and I grab the rope. But no matter how I pull, no dead person is raised from the grave. Because I can’t see what they saw, just as you can’t see what I’m looking at when my rope ‘I’m turning on my roopmaker lane.
“What are we humans? a house grimmer Schmertzen.
A ball of false luck / a will-o’-the-wisp of this time.
A scene of bitter fear / filled with acute suffering /
A soon melted snow and burned candles. “,
Gryphius writes to us. Hence the ropes. Hence the pulling. The sharp suffering, I would so much like to put it away from the memory of the dead, the grim pain should remain in the graves. But it doesn’t work.
If I write about the Magdeburg blood wedding, about the murder, the great murder of the imperial army in the city, I write how a mercenary thrusts his sword into the belly of a pregnant woman and she slits open completely, so I don’t see my memory, but nothing but a film, a retrospective made of Hollywood films, oil paintings, something that has already been presented. That is far, far removed from place and time. I can write about blood, the ankle-deep streets of Magdeburg, here and there, covered, the sticky, stinking, fermenting, red, shimmering blood. I can write about the child that one of the imperial men impaled on his halberd and then thrown away for a meter. I can write down everything that is dreadful, but it remains only a word and it only becomes a film in my head, it will not become a real memory, even if it works, even if the person who reads it then rises up and fights for a better world the dead, the dead children, women and men in their coffins.
I can write about the girls who were raped and burned by the Dash killers, I can write about the woman who forced the child soldiers of the Lord’s Resistance Army with a sack and in that were the heads of her husband and their little sons, to march across a village square in Africa singing chorales. They had cut off her lips beforehand. I can write about that. But the heads remain in the sack and the lips do not grow back.
I have no power over the dead. I cannot take their suffering from them. And yet I write for the living. The living read what I write to the dead, but they do not read it. The way I read what Gryphius wrote the dead or Tucholsky. But as a viewer of the memories I have made, I learn from this that I like to watch the words, that I like to watch the film that is created in my head, but that I should no longer want to watch the course of events. So that in many years, in a hundred maybe or in a thousand, a writer, a lyric poet will write about love and the beauty of heaven, because he can no longer imagine writing about passing away in pain or about the reflection of burning cities on the deep moving clouds.

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