Die Stadt (unbearbeiteter Ausschnitt)

by | Aug 3, 2010 | Wort & Freiheit | 0 comments

>>Als ich erwache, schläft sie noch. Ich stehle mich leise ins Bad, dusche, schleiche in die Küche, mache mir Kaffee und lege ihr einen Zettel hin: „Danke für das weiche Bett“, schreibe ich darauf. Dann husche aus der Wohnung und fahre nach Hause.

In meinem Haus, schon als ich die Haustüre öffne, der Geruch von Heimeligkeit. Aber im Treppenhaus Fragen, die aus den Mauern greifen.

In den Steinen der Wände, im Mörtel, unter den Tapeten, unter den Dielen, in den Zimmerdecken: Überall die Vergangenheit. Sie atmet, sie windet sich in die Gegenwart; sie ist nicht tot zu kriegen. Wer hat hier gelebt, vor fünfzig Jahren, vor sechzig? Wer hat dieses Gründerzeithaus trocken gewohnt vor 130 Jahren? Welche Familie hat hier vor Verzweiflung geheult, geschrien, welche rachitischen Kinder haben hier ihren Pseudokrupp in den Armutsdunst gehustet? Welche Frau ist hier, feucht noch alles um sie herum, schimmelig, giftig, Mutter geworden zum xten Male, wieviele Engelmacherinnen sind hierher gekommen, eine Seele vor dem Leben zu bewahren? Haben die Stiefel der SA die Stufen der Treppen mit lautem Tritt als Trommel des Hasses genutzt? Sind Türen aufgebrochen worden? Schlug man hier Männer tot, die nichts wollten, als Freiheit und Gerechtigkeit? Haben hier die Faschisten Jüdinnen und Juden aus dem Haus gezerrt, während der Progromnacht, während der Jahre dieser ungetünchten, ungeschminkten kapitalistischen Herrschaft?

Wer hat in meiner Wohnung gewohnt? Und wie sah die aus, als das Haus gebaut wurde? Wo waren die Wände damals? Oder war sie auch damals schon eine Einraumwohnung mit Küche? Hat dort jemand gewohnt, dessen Taten sich als waberndes Böses zwischen den Wänden hängen? War es ein Denunziant? Einer, der seine kommunistischen, sozialdemkratischen, seine jüdischen Nachbarn verriet bei der Gestapo? Oder wohnte hier einer, der verraten wurde. Einer, bei dem es klopfte nachts um halb vier? Einer dem sie die Zähne schon auf der Treppe einschlugen, den sie nach Auschwitz schafften zum Sterben oder der totgeschlagen wurde schon hier, in diesem Berlin. Und der Totschläger, war der hinterher wieder Schutzmann oder Lehrer, Steuerbeamter oder Straßenbahnschaffner, saß der in irgendeinem Parlament in Westberlin oder Westdeutschland? Hat der große Reden geschwungen? Saß der vielleicht wieder zu Gericht unter Adenauer über die Kommunisten und sperrte die geschundenen Genossen, die ein paar Jahre vorher von ihm und seinen Konsorten geprügelt worden waren noch in den Konzentrationslagern der ungeschminkten, ungetünchten kapitalistischen Herrschaft, nun wieder in Einzelhaft, in dieser durch das Make-up des Demokratismus verkleideten Republik West?

Da greifen Hände aus meinen Wänden, greifen Hände aus meinen Wänden, greifen Hände aus meinen Wänden, greifen nach mir. Sie schütteln mich. Wach auf! Wach auf! Wir sind noch da! Wir gehen nicht weg! Nicht die einen Wir, welche die anderen Wir getötet haben. Nicht die anderen Wir, die gestorben sind für das Ende des Sterbens. Nicht die Wir, welche die Trockenwohner ins Haus holten, die Kinder mit den kranken Lungen, die Mütter mit den eingefallenen Wangen, die Väter mit den tränenden Augen. Und nicht die Wir, die nur die Wahl hatten, hier krank zu werden oder unter den Brücken. Sie alle sind hier. Sind in den Wänden.

Ich kann sie spüren, ich kann sie hören. Nein, nicht, als hörte ich Stimmen in meinem Kopf. Ich kann sie hören, wie ich Bücher beim Lesen reden höre, wie man eine Erinnerung reden hört. Weil sie Erinnerungen sind: Erinnerungen an die Topografie des Terrors, an Gelesenes und Erzähltes, an Gedenktafeln und Stolpersteine, an die Tafel vor der Kastanie. Sie sind die Stimmen in meinen Wänden, geboren aus meinen Erinnerungen an Erinnerungen. Aus dem Bild der Kinder im KZ. Aus den Schilderungen von Auschwitz. Aus der Vorstellung davon, wie es aussieht – denn wie es sich anfühlt, wer kann das schon empfinden, ohne dort gewesen zu sein – wenn ein SS-Mann, glänzend die schwarzen Schaftstiefel, sauber die schwarze Uniform, ein Kind von der Hand der Mutter nimmt, ein Kind, ein Jahr alt, oder zwei, und es vor den Augen der Mutter an den Beinen packt und dann schlägt er den Kopf des Kindes an eine Wand, schlägt den kleinen Kopf an die Wand, bis das Kind tot ist, der Schädel aufgeplatzt und dann legt er dieses tote Kind, blutig wie es ist, das Gehirn quillt aus dem Kopf, der Mutter wieder in die Arme, und die kann nicht einmal schreien. Nicht mal das kann die dann noch. Und der, der das tat, der ist hinterher wieder wer gewesen, in dieser gottverdammten BRD. Die Mutter aber, die war nichts als schon tot, da schon tot, und dann auch physisch ermordet, ermordet in diesen Tötungsanstalten, deren Mörder auch Steine wurden im Fundament des Staates, den man mir nun gegeben hat auch mir geben hat als meinen, ohne mich zu fragen. Und den ich achten soll nun. Aber ich kann ihn nicht achten. Verachten aber kann ich ihn. Verachten ja, dass kann ich! Ihn und sein Fundament, welches er nicht los wird, nicht in weiteren tausend Jahren, nach den tausend, in denen die Steine gebrannt wurden, die so viel tragen, von den bunt angemalten Mauern, des Staatshauses.<<

0 Comments

Submit a Comment

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website ist durch reCAPTCHA geschützt und es gelten die Datenschutzbestimmungen und Nutzungsbedingungen von Google

In Vorbereitung

Zum Ende 2022

Die Liebe ist ein reißendes Tier

Liebe und Verlorenheit

“Warten auf Ahab” und seine Fortsetzung. Vollständig überarbeitet. Ein Roman voll Liebe und Liebesleid, Kampf und Hoffnung.