Bilder aus der Vorstadt

by | Mai 15, 2016 | Wort & Freiheit | 1 comment

>> Ansonsten bin ich nicht gerne in dieser Gegend. Jedoch denke ich viel an S.
Meine Mutter hatte Bekannte, die eine Zeitlang hier in der Nähe lebten. Wenn wir sie besuchten, nicht oft allerdings, angelegentlich der Geburtstage jener Personen, so verlies ich die stets kleine Gesellschaft nach dem Kaffee und spazierte durch die gediegenen Straßen. Beide Bekannte, ein Ehepaar, erwähnte ich das bereits?, hatten im Sommer Geburtstag, sodass die Bäume in schwerem Grün standen und die Vorgärten, deren es hier so viele wie Häuser gibt, mit Blumen und tief ergrünten Büschen, mit saftigen Rasenflächen hinter gepflegten Hecken und niedrigen Umfassungen dem Passanten ein Bild bürgerlicher Gediegenheit zu vermitteln trachteten. Die Mittelklassewagen, die mit übertriebener Akkuratesse an den Seiten der kopfsteingepflasterten Straßen geparkt waren und es noch immer sind, verstärkten schon damals das Bild angestrengter Bürgerlichkeit.
Einige Male, ich war da schon älter, fünfzehn, sechszehn Jahre vielleicht, kehrte ich ein in hiesige Gastwirtschaften, welche auch das Bild jener Gediegenheit und Sauberkeit, Ordnung und Anstand, aber auch von Prosperität und jener Art von Kultur zu vermitteln wussten, die zu Kunsthandwerkslädchen und Lodenmäntel führt. Ich trank dort ein Bier und sah mir die Menschen an, die sich dort, offenbar als Stammgäste, aufhielten. Da es hier kaum Touristen gibt, anders als es einige hundert Meter weiter, unten an der Elbe der Fall ist und auch Laufkundschaft nicht häufig vorkommt, war ich der Richtigkeit meiner Annahme, es handele sich bei den Gäste um Stammkunden, sicher. Und nichts hat sich verändert seither. Es sind adrette Gäste, auch wenn der Alkohol dem einen oder der anderen schon recht zugesetzt hatte, so waren ihre allgemeinen Lebensumstände offenbar doch derart beschaffen, dass sich der Zerfall der inneren Organe wohl zu den Menschen aus meinem Viertel in egalitärer Weise verhielt, in seiner Außenwirkung jedoch gemildert wurde. Sie wirkten auf gesunde Weise suchtkrank, wenn ich das so ausdrücken darf.
Niemand krakelt hier, und selbst der unsichere Gang einzelner Gäste hat eine gewisse Selbstverständlichkeit.
S. wohnte, ich lernte sie in meinem fünfzehnten Jahr kennen, unweit von hier. Ich vermute, sie ist ortsansässig geblieben. Wollte ich sie allerdings nunmehr besuchen, würde ich den Bus nehmen. Eine Konzilianz ans Alter. Aus Bequemlichkeit, mehr aber aus Furcht vor dem, was ich vorfinden könnte an Mensch habe ich stets davor zurückgeschreckt. Es ist ungefährlich von einem Wiedersehen zu träumen, und sich dabei den Körper der S. in seiner damaligen Form vorzustellen, was zu einer gewissen Erregung führt, als sich dem Schrecken auszusetzen, der mich manchmal dann durchfährt, wenn plötzliches Wiedersehen mir mein eigenes Alter unerwünscht vor Augen führt.
S. stammt aus einer begüterten Mittelklassefamilie und war von revolutionärem Eifer durchdrungen. Sie war ein Jahr älter als ich, jedoch in sexuellen Dingen ganz unerfahren. Wir konnten uns also gegenseitig von Nutzen sein. Gerne erinnere ich mich an ihr Zimmer im elterlichen Haus und an den großen Garten mit dem Baumbestand der älter war als der Bungalow. Es gab ein Schwimmbad im Keller und unweit befand sich eine öffentliche Badeanstalt.
Ich bin in der Stadt aufgewachsen, wie man hier sagt, wenn man den Kern als Ort festmachen will. Es war kein ärmlicher Bereich der Stadt, sondern einer, der in allem den Durchschnitt bildete, also ebenfalls von einer gewissen Langeweile war, jedoch gleichwohl mehr Möglichkeiten bot, der Unbill des Lebens in interessanter und kurzweiliger Weise ausgesetzt zu sein. Auch waren die Menschen in jenem Umkreis, den ein Kind ohne große Anstrengung erreichen kann abwechslungsreich und lebten in sehr unterschiedlichen Umständen. Früh kam ich mit Philosophie und Wollust, mit Literatur und Lüsternheit, mit Gewalt und Liebe in Berührung. Hierorts ist alles in sonderlicher Weise einförmig, sind die Lebensgeschichten abweichend nur in der Art ihrer Ausgestaltungen. Ich fühle mich in dieser Vorstadt, die zwischen jenem Bereich der Stadt aus der die Vorfahren meiner Familie kamen und jener in der meine Mutter dann mit mir lebte den Zwischenschnitt darstellt, unwohl, obwohl ich nun hier wohne. Leben Sie wohl. <<

1 Comment

  1. Lodenmäntel leiten quasi den Anfang vom Ende jeglichen menschenwürdigen Seins ein. Take care!

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