Die Schöpfung

by | Sep 2, 2017 | Wort & Freiheit | 0 comments

Die Schöpfung

«Vorhin hatte ich noch eine Geschichte im Kopf», dachte ich, «eine ganz wunderbare Geschichte». Worum nur war’s in ihr gegangen? Ich erinnerte mich daran eine Frau gesehen zu haben, die in einer Hotellobby, «das war doch eine Hotellobby», fragte ich mich, konnte die Frage aber nicht beantworten und zuckte mit den Schultern, bemühte mich auch, einen bedauernden Gesichtsausdruck zu zeigen, wenigstens für ein oder zwei Sekunden, saß, eine Frau, vielleicht um die Dreißig, halblange Haare, in einem Braunton, jedenfalls, soviel ich weiß. Ich lächelte entschuldigend. «Mehr kann ich Dir nicht sagen.» Ich blickte aus dem Fenster.
Draußen Regen, seit Tagen schon, beim schönsten Sommersonnenschein, bei strahlend blauem Himmel, Regen. Ich konnte ihn machen und ich machte ihn, auch eine Frau konnte ich machen und eine Hotellobby, jedenfalls dann, wenn ich mir sicher war über Frau und Lobby, über Aussehen und Mobiliar, über Gäste im Hintergrund, Bedienungen und die Zeit, zu welcher das alles real war. Denn natürlich war alles ganz wirklich. Der Regen, die Frau, und jetzt auch der Gedanke an den Gedanken, der die Frau hervorbringen könnte, wenn sich nur er entwickelte und wiederfand. Ja, wenn er sich nach vorn bewegen und — ich erwähne das, um die Sache für Sie, Sie tragen einen blauen Anzug, sind etwa fünfundzwanzig Jahre alt, arbeiten in einer Bank und lesen ungern in Büchern, die nicht ihre Arbeit betreffen, Sie haben schwarze Haare, auf die Sie stolz sind und Sie wissen, dass ich gerne mit Ihnen schlafen würde, auch wenn ich es nie erwähnen werde, anschaulicher zu machen — zugleich zurück, also zu jenem verlorenen Moment hin, an dem mir die Erinnerung an ihn, an diesen Gedanken, verloren ging und er sich also gleichsam selbst wieder auffinden und bei sich tragen würde und — stets körperlich vereint mit sich selbst — sich über den Punkt hinaus, an dem ich auf die Rückkehr des Gedankens warte, der sich selbst im Arm trägt, dann nach vorn von mir entfernen würde. Verstehen Sie, das ist ganz real. Sie, ich, der Gedanke, die Frau und alle Dinge in dem Gedanken und um ihn herum. Alles das ist aus Quanten, wie das Universum. Aber ich kann die Quanten steuern, wie ein Gott, über jeden erdachten Gott hinaus sogar, denn ich kann auch Gott denken, irgendeinen, mit irgendeinem Namen, einen singulären oder einen in einer ganzen Gang von Göttern, eine Göttin auch, oder ich kann Sie, ja genau Sie, ihres blauen Anzuges entledigen und sie in die Uniform eines Husaren stecken oder sie nackt vor mir knien lassen, ich kann sie küssen, ja kann «und sie küssten sich voll Leidenschaft» denken und im denken diesen Kuss aus der Welt chaotisch herumliegender Teilchen schöpfen und also einen Schöpfungsakt begehen, ich kann in Sie eindringen und mich in Sie ergießen oder Sie sterben lassen auf irgendeinem Schlachtfeld auf einem unentdeckten Planeten. Ich bin Ihr Gott, und der Gott der Frau und aller Hotels in mir, aller Schlachten und aller Küsse. Denn ich träume mir wach Welten auf weiße Blätter.

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