Die Stadt

by | Jan 13, 2010 | Wort & Freiheit | 0 comments

Er ist IM gewesen. Wusstest Du das?
Nein, woher weißt Du es denn?
Er hat es mir gesagt.

Wir schweigen. Bis sie den Wagen vor dem Haus parkt, kommt kein Gespräch mehr zu standen. Vater hat gekocht. Wir essen. Smalltalk. Dann trägt Mutter das Geschirr hinaus. Ich helfe ihr nicht. Ich will mit meinem Vater reden.

Du warst IM, sagt Mama.
Ja, weißt Du …
Entschuldige Dich nicht. Viele waren IM.
So waren die Verhältnisse. Ich wollte …
Wer war so?
Die Verhältnisse. Ich hatte einfach nicht den Mut nein zu sagen.
Du hast es nicht aus Überzeugung getan?
Aus Überzeugung?! Nein, natürlich nicht.
Wieso natürlich? Es wäre natürlich gewesen, es aus Überzeugung zu tun.
Ach was, Überzeugung. Es waren die Verhältnisse.
Die Verhältnisse. Die Verhältnisse. Die große graue Masse der Verhältnisse. Es gibt überhaupt keine Verhältnisse. Nicht ein Gramm Verhältnisse gibt es. Es gibt nur Überzeugung oder Feigheit. Du hast es also aus Feigheit getan?
Du hast ja keine Ahnung von …
… den Verhältnissen?
… ja – den Verhaltnissen! Wie die waren. Ich wollte meinen Beruf nicht gefähren.
Die Karriere.

Meinethalben: Die Karriere. Ich hatte Aussichten.
Einsichten wären besser gewesen.
Ich konnte doch nicht ablehnen.
Ich rede nicht vom ablehnen, ich rede von den Gründen IM zu werden. Es zu tun. Nicht davon, es zu lassen, es abzulehnen.
Es war falsch.
Wer konnte das wissen.
Man konnte es wissen, man konnte es sehen. Es ist immer falsch, zu denunzieren.
Mag sein. Aber man musste nicht denunzieren. Sie haben doch auch Berichte akzeptiert, die niemanden denunzierten. Meinungsbilder.
Es war trotzdem falsch.
Aber Du hast es getan. Du hast Bericht erstattet.
Aber niemanden denunziert.
Man kann mit Dir nicht reden. Du drehst Dich im Kreis.
Jedenfalls tut es mir leid.
Weshalb? Weil es nicht genützt hat?
Weil es falsch war.
Oder weil es falsch ist, jetzt falsch ist. Weshalb kannst Du Dich nicht hinstellen und sagen: Ja, ich war IM, ich war das aus Überzeugung. Für die Partei, für den Sozialismus, für den Frieden, für den Eierkuchen. Für irgendwas. Aber es zugeben ohne Ausreden, ohne die Verhältnisse. Dann wüsste man: Da ist einer, der ist ehrlich. Auf den kann man sich verlassen, egal wie die Verhältnisse sind.
Weil ich es nicht getan habe für Frieden und Sozialismus. Sondern weil ich Angst hatte, ich würde nicht mehr befördert werden, ich würde meinen Job verlieren oder Du würdest nicht auf die EOS kommen.
Also für den Eierkuchen? Dann sag doch: Für den Eierkuchen.

Vater schweigt. Wir schweigen mehr oder weniger den ganzen Nachmittag. Zwischendurch gehe ich hinaus. Drehe eine Runde durch das Dorf. Trinke ein Bier in Lutzens Schenke. Keiner ist da außer mir. Gibt es außer mir überhaupt jemanden. Oder bilde ich mir die alle ein. Warst Du IM, frage ich Lutz. Der lacht und sagt nein. Ich glaube ihm.

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