Altmann und der Weg

by | Okt 7, 2014 | Wort & Freiheit | 0 comments

[Unlektoriertes, unkorrigiertes erstes Typoscript]

Altmann saß vor der Scholle. Er wischte den Speck mit der Gabel von der Haut des Hingeschiedenen neben die Kartoffeln. Einen Moment lang wähnte er, ein Fischer zu sein, ein frühzeitlicher Fänger, der mit dem Speer regungslos im Wasser steht und wartet, bis ein Fisch, groß genug muss der sein, um erfolgreich aufgespießt zu werden, in die Reichweite der Waffe gerät. Aber dieser Gedanke verflog, wie die Spatzen verfliegen, die auf dem Marktplatz nun, nach Ende des Marktes an den Resten picken, wenn Spaziergänger das Kopfsteinpflaster des Platzes überqueren. Alles Scheiße. Alles Dreck. Altmann zuckte zusammen. Da denkt es wieder in mir, dachte er. Es gibt zwei Ebenen von Gedanken, vielleicht sogar noch weitere, unergründete. Jene Gedanken, von denen er, Altmann, glaubte, sie würden mit Mut und Willen von ihm gedacht werden und jene, die plötzlich erscheinen, diese schimpfenden, zeternden Gedanken, die ihm unrecht waren, weil er es als ungerecht empfand, sie denken zu müssen. Ich bin noch nicht übern Berg, dachte er mutwillig. Ich bin noch nicht übern Berg.
Er trennte das weiße Fleisch des Fisches von der Grete, aß mit Bedacht, achtete auf Gräten, schob sich eine Kartoffel zwischen die Kiemen, trank ein Schluck Bier, aß ein Stückchen toten Fisch, aß tote Kartoffel, trank Gebrautes, erinnerte sich an den Gestank der Brauerei, die unweit der Wohnung der Großeltern in Hamburg gelegen hatte. Dachte: Hamburg. Dachte: Hamburg-Harburg. Dachte: Parkplatz, Zugfenster, Parkplatz, Autos. Dachte: Warum gibt es all die Dinge? Wer sind wir, all die Dinge zu schaffen. Aß Fisch, aß Kartoffel. Dachte: Evolution. Dachte: Man kann nichts machen. Es ist halt so. Hätte anders sein können. Mensch als Tier. Tierisch. Altmann überlegte einen Moment, ob er sich entkleiden solle. Er dachte es gewollt, als Denksport und kam zu dem Schluß, dass es eine Restriktion gegen das Entkleiden in der Öffentlichkeit gab, wenn man nicht einen Raum schuf, in dem man sich öffentlich entkleiden konnte, ohne dass diese Restriktion galt. Einen Swingerclub zum Beispiel, ein Stripteaselokal, wofür, wie er sich eingestand, nicht schön genug und schon zu alt war, oder ein Theater, wo man sich, das ging dort, auch dann entkleiden konnte, wenn man ein Greis war. Er hatte also noch Zeit.
Altmann zahlte und ging. Er überquerte den Platz, drehte eine Runde durch die Nikolaistraße, ging die Kieler Straße zurück hinauf zur Kirche. Und ging hinein. Die schwere Kühle des Innenraums griff nach ihm. Langsam strich er durch das Kirchenschiff, sah den Altar, den, wie er einem schon ander Tür mitgenommenen Prospekt entnahm, ein Mitglied der ortsansässigen Holzbildhauerfamilie Gudewerdt geschaffen hatte. Ein schöner Altar. Und Altmann vermisste die Frage, die sich vor ein paar Wochen noch zwingend ergeben hätte: Weshalb? Nein, er fragte nicht nach dem Grund von Kunst. Die fehlende Frage war wie ein Loch, war Altmann wie ein Verlust, etwas Fehlendes. Der Graf von Saint Germain soll hier begraben worden sein, las Altmann, ein Achimist, aber kein absichtlicher Betrüger, wie es Cagliostro gewesen war, der sich als Schüler des Grafen ausgegeben haben soll. Ein Wässerchen gegen das Altern hat der Graf in Paris verkauft und Edelsteine für den König von Frankreich von Fehlern gereinigt. Um Frieden hätte er, sagt die Legende, verhandelt mit Großbritannien, auf Wunsch des Roi und vorbei am Außenminister. Nach Hamburg dann geflohen und dann in Eckernförde im Alchimistentum, den es nicht mehr gibt, und hat eine Seidenfärberei hier gegründet. Gestorben wäre er, der Graf mit Erzähltalent und, wie ihm der preußische Botschafter in Dresden bescheinigte, wachem Verstand, aber ohne Urteilsvermögen, weil ihm das Wetter im Norden nicht bekam. Altmann hustete.
Zum Strand, zur Weite des Meeres nach der Begrenztheit des Raumes, ans Licht, nach der Dunkelheit des Gebäudes, in die Natur, nach dem Menschengemachten. Und da, am Strand, den Blick auf die Wellen, den Blick auf ein einsames Segelschiff, das aus der Buch lief, angesichts dieser Schönheit, nach der Schönheit der Kunst, war ihm auf eine eigenartige Art heimelig zumute, so heimelig, dass er die Kirche, ihren Geruch, ihr gedämpftes Licht, dass er er die Grabmale, dass er Pflaster und und Häuser, den Wind und die Kühle als etwas ansah, das er lang schon kannte und das ganz auch ihm gehört und zu ihm. Altmann blickte auf seine Füße. Wohn gehen?

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